
Wallonie.be
Von Reinhard Boest
Welches Stromsystem braucht Belgien, wenn es 2050 klimaneutral sein will, und zwar zu möglichst geringen Kosten? Dieser Frage hat sich jetzt das Föderale Planbüro (FPB) angenommen, eine unabhängige Beratungseinrichtung, die in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Umwelt vor allem den Regierungen und Parlamenten des Landes ihre Expertise zur Verfügung stellt.
Es ist nicht die erste Studie zu diesem Thema; so hat sich Elia, der Betreiber des belgischen Hochspannungsnetzes, vor ziemlich genau einem Jahr dazu geäußert und ähnliche Szenarien untersucht (siehe https://belgieninfo.net/kann-belgien-bis-2050-seinen-strombedarf-klimaneutral-decken/).
Sowohl Elia als auch das FPB gehen davon aus, dass sich bis 2050 der Strombedarf in Belgien mehr als verdoppeln wird, bedingt vor allem durch zunehmende Elektrifizierung in den Bereichen Mobilität und Heizung sowie bei industriellen Prozessen oder für Rechenzentren. Einig sind sich beide auch darin, dass diese Nachfrage nicht allein durch in Belgien erzeugten Strom aus erneuerbaren Energien gedeckt werden kann, selbst bei einem maximalen Ausbau der Kapazitäten für Windenergie (an Land und auf See) und der Photovoltaik. Erhebliche Mengen müssten importiert werden, etwa von Offshore-Windkraftanlagen anderer Nordsee-Anrainer, also dem “größten grünen Kraftwerk Europas”, für das 2023 mit großem politischen Aufwand in Ostende der Startschuss gegeben wurde (siehe https://belgieninfo.net/die-nordsee-soll-zum-gruenen-kraftwerk-europas-werden/). Allerdings wurden im Juni die Ausbaupläne für die Prinzessin-Elisabeth-Energieinsel, dem wichtigsten belgischen Projekt für die Windenergie auf See, vorerst gestoppt (https://belgieninfo.net/prinzessin-elisabeth-insel-als-leuchtturmprojekt-fuer-gruenen-strom-faellt-dem-rotstift-zum-opfer/).
Als Option wird in beiden Studien die weitere Nutzung der Atomkraft untersucht. Während vor einem Jahr die Perspektiven für diese Option politisch noch unsicher waren, ist seit dem Amtsantritt der Arizona-Koalition eine Entscheidung für die Atomenergie gefallen. Elia und FPB legen ihren Szenarien eine Kapazität von 8 Gigawatt (GW) zugrunde. Die derzeit (noch) in Betrieb befindlichen Meiler in Belgien kommen zusammen auf rund 3,5 GW, wovon 1,5 GW demnächst vom Netz gehen. Auch mit einer Verlängerung der Laufzeit der verbleibenden Reaktoren (Doel 4 und Tihange 3) um 10 Jahre – oder gar 20 Jahre, wie es die aktuelle Regierung anstrebt – ist das Klimaziel ohne den Neubau weiterer Kraftwerke nicht erreichbar. Davon gehen daher auch beide Studien für ihre Modelle aus.
Welche genauen Annahmen den Berechnungen der Kosten für die Alternativen (mit oder ohne Atomkraft) zugrundegelegt werden, bleibt allerdings unklar. Das gilt insbesondere für Material- und Baukosten, Dauer von Genehmigungsverfahren, Kapitalkosten, Brennstoffkosten (Uran) und letztlich auch die Kosten für den Rückbau und den Verbleib von Abfällen. Einen Anhaltspunkt kann ein gerade veröffentlichter Bericht des französischen Rechnungshofs geben: er beziffert den Finanzbedarf des Energieunternehmens Electricité de France für den Nachrüstung bestehender und den Bau von 14 neuen Reaktoren bis 2040 auf 200 Milliarden Euro.
Einen Unsicherheitsfaktor sehen Elia und FPB auch in derden Versorgung. Bei der Beschaffung von Uran sei man auf überwiegend unzuverlässige Lieferanten angewiesen, aber auch beim Import von Windstrom aus den benachbarten Nordsee-Anrainern könne es Engpässe geben, heißt es.
Jedenfalls kommen hier die beiden Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen: Elia sieht einen (leichten) Kostenvorteil für eine Versorgung ausschließlich mit (auch importierter) erneuerbarer Energie. Dagegen wäre für das FPB diese Variante mit Abstand teurer als eine Kombination von erneuerbaren Energien und Atomstrom.
Wiederum einig sind sich beide, dass die Politik mit den notwendigen Entscheidungen nicht warten dürfe. Der Vorlauf für den Umbau der Versorgung sei so groß, dass sich schon in der nahen Zukunft entscheide, ob man das Ziel erreichen könne, bis 2050 klimaneutral zu werden.
Allerdings lassen politische Entwicklungen nicht nur in den Nachbarländern Belgiens, sondern auch auf der europäischen Ebene befürchten, dass die ehrgeizigen Ziele, die man sich 2015 bei der Pariser Klimakonferenz und nachfolgend mit dem europäischen “Green Deal” gesetzt hat, doch wieder aufgeweicht werden. Die im Interesse des Klimaschutzes eigentlich schon beschlossene Abkehr von fossilen Brennstoffen insbesondere in den Bereichen Gebäude/Heizung und Mobilität gerät zunehmend unter Druck. Damit könnten sich dann aber auch die Prognosen über den Strombedarf und die Erzeugungskapazitäten wieder ändern.
Passenderweise gibt das Planbüro auch dazu gerade eine Prognose ab: Belgien könnte durch den fortschreitenden Klimawandel bis zum Jahr 2050 fünf Prozent seiner Wirtschaftsleistung verlieren, mit erheblichen Auswirkungen auf die ohnehin angeschlagenen öffentlichen Finanzen.
Studie zum Stromsystem: https://www.plan.be/fr/publications/quel-systeme-electrique-pour-atteindre-la
Studie zum Klimawandel: https://www.plan.be/fr/publications/le-rechauffement-climatique-pourrait-faire-perdre
Beide Studien liegen auch auf Niederländisch und Englisch vor – leider nicht auf Deutsch







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