Aktuell, Belgien, Politik

In Belgien beginnt das Arizona-Zeitalter

Flagge von Arizona

Nach 236 Tagen steht der rund 200 Seiten lange Koalitionsvertrag

Von Michael Stabenow

Eigentlich sollte nach den belgischen Parlamentswahlen am 9. Juni des vergangenen Jahres alles sehr schnell gehen. Da die Neu-Flämische Allianz (N-VA) entgegen den anfänglichen Prognosen ihre Spitzenposition in Flandern vor dem Rechtsextremen Vlaams Belang hatte behaupten können und im südlichen Landesteil überraschenderweise eine Mitte-Rechtsmehrheit zustande kam, schien an der sogenannten Arizona-Koalition kein Weg mehr vorbeizuführen.

Das Farbmosaik mit orangenen und roten Tupfern nach dem Muster der Flagge des amerikanischen Bundesstaats sollten die flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) und die flämischen Sozialisten (Vooruit) vervollständigen. So ist es dann letztlich auch gekommen – allerdings nach 236, oft nervenaufreibenden Tagen.

Erstmals wird ein flämischer Nationalist Regierungschef

N-VA-Parteichef Bart De Wever, fortan erster flämisch-nationalistischer Premierminister des Königreichs der Flamen und Wallonen, hatte Ende August bereits das Handtuch geworfen. Mangels politischer Alternativen nahm er jedoch den Faden als Regierungsbildner wieder auf. Es knirschte aber weiterhin kräftig im politischen Gebälk.

Nach einer Marathonsitzung der fünf Parteichefs hinter verschlossenen Türen in der Königlichen Militärakademie in Brüssel konnte De Wever am Abend des letzten Januartags – der von ihm gesetzten Frist – endlich Vollzug melden. „Alea iacta est“, schrieb er, seiner Vorliebe für Latein wieder einmal nachgebend, auf dem Kurznachrichtendienst X. Was die rund 200 Seiten dicke Koalitionsvereinbarung mit zahlreichen Beschlüssen (siehe zum Beispiel hier: Voici les principales mesures décidées par le nouveau gouvernement de Bart De Wever – RTBF Actus) betraf, hatte er zweifellos mit seinem Rückgriff in die Kiste lateinischer Sprüche recht: Die Würfel waren gefallen.

Ein politischer Drahtseilakt

Dennoch glich es einem politischen Akt auf dem Drahtseil, auf dem die Unterhändler balancieren mussten und dessen Ausgang durchaus in den Sternen steht. Die politische Arithmetik des 9. Juni 2024, die den flämischen Liberalen (Open VLD) von Premierminister Alexander De Croo den Absturz in die politische Bedeutungslosigkeit beschert hatte, ließ keine andere Wahl. Es führte offenkundig kein Weg daran vorbei, sich der Unterstützung der flämischen Sozialisten als Mehrheitsbeschaffer zu versichern.

Vooruit als einzige „linke“ Kraft der Koalition

Es musste der sprichwörtlichen Quadratur des Kreises gleichkommen, die unterschiedlichen Rezepte der auf Steuererleichterungen und harte Einschnitte in der Sozial- und Lohnpolitik dringenden Parteien N-VA und MR einerseits sowie andererseits der auf sozialen Errungenschaften beharrenden Sozialisten miteinander zu vereinbaren. Eines stand dabei von vorneherein fest: Vooruit-Parteichef Conner Rousseau würde einen hohen Preis für eine Regierungsbeteiligung verlangen – als einzige „linke“ Kraft einer Koalition mit den politisch rechts angesiedelten Parteien N-VA und MR sowie den sich in der politischen Mitte positionierenden einstigen Schwesterparteien CD&V und „Les Engagés“.

Nicht nur im Lager der französischsprachigen Sozialisten (PS) und der Grünen beiderseits der Sprachgrenze, sondern ebenfalls im Hauptquartier der bei jüngsten Wahlen auch in Flandern durchaus erfolgreichen linkspopulistischen Partei PTB/PVDA blickte man mit Argusaugen auf mögliche Konzessionen von Vooruit bei den Verhandlungen. Schon die jüngsten Streiks und Demonstrationen, nicht zuletzt gegen die befürchteten Einschnitte in der Rentenpolitik, hatten gezeigt, dass dem Land stürmische Zeiten bevorstehen dürften.

Die prekäre Haushaltslage zwingt zu handeln

Andererseits ist die belgische Haushaltslage äußerst prekär. Mit einer öffentlichen Neuverschuldung von gut fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukt (BIP) und einem Schuldenstand von mehr als 105 Prozent des BIP verfehlt das Land klar die stabilitätspolitischen EU-Vorgaben. Die Europäische Kommission hat dem Land daher eine zuletzt bis Ende April verlängerte Frist gesetzt, mit einem glaubwürdigen Plan zur Entlastung des Haushalts in einer Größenordnung von 20 Milliarden Euro in den kommenden Jahren aufzuwarten.

In diesem Kräftefeld musste Regierungsbildner De Wever versuchen, eine gemeinsame Linie zu erarbeiten. Lange hatte er dabei versucht, mit seinen Kompromissvorschlägen weitgehend der eigenen Parteilinie zu folgen. Erst in der Schlussphase ging er eindeutiger auf die Forderungen der Sozialisten ein, was wiederum zu verstärkten Reibungen mit dem MR und seinem gerne sehr selbstbewusst auftretenden Parteichef Georges-Louis Bouchez führte.

Sozialistische Trophäen

Die Spannungen gipfelten in der Auseinandersetzung um das, was jetzt als „Solidaritätsbeitrag“ in die Geschichte eingehen dürfte. Ziel ist es, eine Steuer von 10 Prozent auf die erzielten Gewinne mit Aktien und anderen Anlagen zu erheben – ein Ergebnis, mit dem Rousseau den eigenen Mitgliedern die andererseits im Koalitionsvertrag geplanten Einschnitte bei den Renten, beim Arbeitslosengeld und anderen Sozialleistungen schmackhaft machen wollte. War zunächst von einer Besteuerung von fünf Prozent die Rede, so konnte MR-Chef Bouchez auf der der Zielgraden erreichen, dass die Steuer erst ab Erträgen von 10000 und nicht – wie zunächst – geplant 6000 Euro fällig werden soll.

Der „Solidaritätsbeitrag“ war eine jener „Trophäen“, mit denen sich Vooruit-Chef Rousseau am Samstagabend in seiner Heimatstadt Sint-Niklaas auf einem Parteikongress den Koalitionsvertrag absegnen lassen konnte. Die zweite wichtige „Trophäe“ für Rousseau ist, dass das außer in Belgien noch in der EU lediglich in Luxemburg praktizierte Index-System der automatischen Anpassung der Löhne an die Preissteigerungsrate in der jetzigen Form erhalten bleibt.

Auf der Habenseite von N-VA und MR

Demgegenüber stehen vor allem deutliche Einschnitte in das Arbeitslogengeld, dessen Dauer auf zwei Jahre begrenzt werden soll. Zusammen mit einem Mindestabstand von 500 Euro zu den gezahlten Löhnen soll das dazu beitragen, den Anreiz für eine geregelte Arbeit zu steigern und durch eine erhöhte Kaufkraft und Sozialbeiträge die öffentlichen Kassen nachhaltig zu entlasten. Von der Neuregelung ausgenommen werden sollen über 55 Jahre alte Beschäftigte.

Zudem verheißt der Arizona-Vertrag insbesondere Niedriglohnverdienern mittelfristig Steuerentlastungen. Im Kampf gegen Steuerhinterziehung und Betrug mit Sozialleistungen versprechen sich die Koalitionspartner nicht zuletzt von der Einstellung von 300 zusätzlichen Kontrolleuren mittelfristig staatliche Mehreinnahmen von jährlich mindestens einer Milliarde Euro.

Entlastungen der Staatskasse erhoffen sich die Arizona-Koalitionäre auch durch Anpassungen am Rentensystem. Das gesetzliche Eintrittsalter soll auch längerfristig bei 67 Jahren bleiben; allerdings soll es Anreize für eine längere sowie empfindliche Abstriche für eine kürzere Lebensarbeitszeit geben. Auch in der Gesundheitspolitik sind Einsparungen vorgesehen.

Was für weniger Kontroversen sorgte

Weniger knifflig als befürchtet gestalteten sich die Verhandlungen zur Migrations-, Verteidigungs- und Energiepolitik. Auch Vooruit hatte sich für eine verschärfte Asylpolitik ausgesprochen. Geplant sind verstärkte Grenzkontrollen und Abstriche bei Sozialleistungen. In der Energiepolitik soll die neue Regierung versuchen, ungeachtet der grundsätzlichen Vorbehalte des Betreibers Engie die Laufzeiten der noch verbleibenden Kernkraftwerke Tihange 3 und Doel 4 nicht um 10, sondern sogar 20 Jahre (bis 2045) zu verlängern. Hoffnungen werden offenbar auch in die noch in der Entwicklung befindlichen und durchaus mit Argwohn beäugten Minikraftwerke vom Typ „Small Modular Reactors (SMR) gesetzt.

Dass Belgien mehr in die Verteidigung investieren muss, steht dagegen außer Frage. Auch wenn die Zielsetzung von zwei Prozent im Jahr 2029 erreicht werden sollte, dürfte Belgien den meisten Nato-Partnerländern weiter deutlich hinterher hinken. Der Koalitionsvertrag enthält auch weitere Grauzonen. So soll die Möglichkeit eröffnet werden, die gesetzliche Abtreibungsfrist über die derzeitige Grenze der zwölften Woche der Schwangerschaft hinaus zu verlängern. Mit Rücksicht auf die Vorbehalte der Christlichen Demokraten wird dies aber nicht näher ausgeführt.

Kommt eine weitere Staatsreform?

In der Praxis muss sich auch zeigen, wie weit die N-VA mit ihrem Wunsch nach einer weiteren, dann insgesamt siebten Staatsreform seit 1970 kommen kann. Im Koalitionsvertrag wird zwar das Ziel formuliert, nach der Parlamentswahl im Jahr 2029 über eine neue Struktur mit klarerer Verteilung der Zuständigkeiten von Föderalstaat und Regionen zu gelangen. „Ich bin für die Evolution, niemals für die Revolution“, sagte De Wever am Samstagabend im Fernsehsender RTBF – mit Blick auf erforderliche Mehrheiten beiderseits der Sprachgrenze müssten in Ruhe weitere Schritte vorbereitet werden.

Für Verfassungsänderungen sind eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit und im Regelfall auch Mehrheiten innerhalb der niederländisch- und französischsprachigen Gruppen. Diese Klippe könnte sich in einem ersten Schritt durch eine sogenannte asymmetrische Vorgehensweise umschiffen lassen. Sie würde es ermöglichen, auf in die föderale Zuständigkeit fallenden Politikfeldern in den Regionen unterschiedlich zu verfahren. Dies gilt insbesondere für die Arbeitsmarkt-, aber auch Gesundheitspolitik. Vorstellbar ist demnach auch, dass Regionen eigenständig in das – grundsätzlich in die föderale Zuständigkeit fallende – Eisenbahnnetz investieren.

Scharfe Kritik der französischsprachigen Sozialisten

Erwartet scharf fiel die Kritik am Koalitionsvertrag von Paul Magnette aus, dem Parteichef der französischsprachigen Sozialisten (PS). Die neue Regierung verfolge nur ein Ziel: innerhalb von fünf Jahren die Bande der Solidarität zwischen den Belgiern zu kappen: „Die N-VA hat sich nicht geändert, und es gab offensichtlich keine Französischsprachigen am Tisch“, teilte Magnette auf dem Kurznachrichtendienst X mit.

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