Von Reinhard Boest
Vor den Kommunalwahlen am 13. Oktober war man zuversichtlich: danach werde es schnell gehen mit den abschließenden Verhandlungen über neue Regierungen auf der föderalen Ebene und in der Region Brüssel-Hauptstadt. Gut zwei Wochen nach diesem Datum sieht es nicht mehr danach aus.
Die „Arizona-Koalition“ schien für die neue Föderalregierung gesetzt: ein Bündnis aus Liberalen (MR) und Zentristen (Les Engagés, LE) auf der frankophonen sowie Nationalisten (N-VA), Christdemokraten (CD&V) und Sozialisten (Vooruit) auf der niederländischsprachigen Seite. Regierungsbildner Bart De Wever schien nach mehreren Terminen beim König nicht mehr weit von einem Erfolg. Jetzt aber scheint Vooruit – der einzige linke Partner der Koalition – kalte Füße zu bekommen, jedenfalls ein wenig. Die bisher von De Wever erstellten Papiere gehen den Sozialisten wohl zu sehr in eine Richtung, die man in den bereits abgeschlossenen Koalitionsverträgen in der Wallonie und der Föderation Brüssel-Wallonie findet. Vooruit verlangt jetzt erst einmal eine neue Vorlage zu den sozio-ökonomischen Fragen, bevor die Verhandlungen weitergehen könnten. Die Entwicklung bei Audi Brüssel, wo jetzt die endgültige Schließung Ende Februar 2025 feststeht, könnte sich erschwerend auswirken: wie soll die belgische Politik mit dem Verlust von mehreren tausend Arbeitsplätzen umgehen? Da möchte niemand den Schwarzen Peter haben. Die frankophonen Sozialisten (PS) haben jedenfalls ihre Entscheidung bestätigt, in die Opposition zu gehen. Ohnehin ist die “asymetrische” Präsenz der verschiedenen Parteifamilien auffällig; Sozialisten, Liberale und Grüne sind sowohl Regierungspartner und Opposition: Vooruit und PS sowie MR und OpenVld auf der föderalen Ebene, Ecolo und Groen in der Region Brüssel. Welche Auswirkungen wird das auf den Zusammenhalt der Parteifamilien haben?
Auch in der Region Brüssel-Hauptstadt ist ein Durchbruch noch nicht in Sicht. Der Wahlsieger vom Juni, der Brüsseler MR-Chef David Leisterh, ist zwar noch immer der Favorit für die Nachfolge von Rudi Vervoort, dem noch amtierenden sozialistischen Ministerpräsidenten. Aber auf dem Weg dahin liegen auch fünf Monate nach dem Wahltermin noch einige dicke Brocken. Über die Schwierigkeiten, eine Mehrheit in beiden Sprachgruppen des regionalen Parlaments zu finden, hat Belgieninfo bereits berichtet (siehe https://belgieninfo.net/regierung-in-bruessel-noch-lange-nicht/). Nach den jüngsten Kommunalwahlen ist eine Auseinandersetzung – zwischen MR und PS, den potentiellen Partnern in der Regionalregierung – über die Besetzung zweier Bürgermeisterposten in den Brüsseler Gemeinden Forest und Schaerbeek hinzugekommen.
In einem Interview mit dem frankophonen Fernsehsender RTBF konnte Leisterh jetzt noch kein Licht am Ende des Tunnels vermelden, eher im Gegenteil.
Die Suche nach einer Mehrheit unter den 17 niederländischsprachigen Mitgliedern des Brüsseler Parlaments aus acht Parteien hat noch immer nicht zum Erfolg geführt. Zwar wäre nach Ansicht einiger Verfassungsrechtler auch eine Regionalregierung möglich, die nur bei den Frankophonen eine Mehrheit hat – was die Partner MR, PS und LE aber ohnehin nicht erreichen (sie haben nur 44 der 89 Sitze). Aber Leisterh will sich nicht auf dieses rechtlich umstrittene und politisch heikle Terrain begeben und strebt weiter eine Koalition auch mit niederländischspachigen Partnern an. Dafür ist man bereit, sogar eine Teilnahme der N-VA in Kauf zu nehmen, sozusagen dem „Erzfeind“ des MR, wenn es um das Sprachenregime und den Status Brüssels in belgischen Staatsgefüge geht. Nur eine Beteiligung der „Liste Fouad Ahidar“ wird kategorisch ausgeschlossen.
Aber die noch amtierende Brüsseler Verkehrsministerin Elke Van Den Brandt von den flämischen Grünen (Groen) hat bisher die Zauberformel nicht gefunden, wie man vier Partner – so viele sind nötig, um auf eine Mehrheit im niederländischsprachigen Kollegium des Parlaments zu kommen – zum Eintritt in eine Regierung bewegen soll, in der nur drei Ämter für Niederländischsprachige zur Verfügung stehen. Leisterh scheint aber zu erwarten, dass einer der Partner sich „opfern“ wird.
In der Zwischenzeit hatte Van Den Brandt das Mandat für eine Mehrheitsbildung schon zurückgegeben, sicher auch aus Frustration darüber, dass die künftigen Partner MR, LE und PS mit ihrer Mehrheit im Parlament schon vorab damit begonnen haben, Teile ihres Prestigeprojekts „Good Move“ zurückzudrehen (siehe https://belgieninfo.net/nach-den-kommunalwahlen-kehrtwende-in-der-bruesseler-verkehrspolitik/). Es ist schwer vorstellbar, wie sich Groen sich auf eine Koalition mit einem solchen Programm einlassen kann.
Nach der Kommunalwahl ist ein Streit zwischen MR und PS hinzugekommen: beide beanspruchen den Bürgermeisterposten in Forest und Schaerbeek für sich. In Forest, wo bisher eine rot-grüne Mehrheit regierte, erhielt am 13. Oktober der MR die meisten Stimmen und ihr Kandidat Cédric Pierre-De Permentier die meisten Vorzugsstimmen. Der noch amtierende Bürgermeister Charles Spapens (PS) lehnt aber bisher eine Koaltion unter MR-Führung ab und bemüht sich um eine Fortsetzung der bisherigen Mehrheit unter Einbeziehung der linken PTB/PVDA. In Schaerbeek kommen MR (der zusammen mit LE in einer Liste angetreten war) und PS im neuen Gemeinderat auf die gleiche Zahl von Sitzen (10), allerdings mit einem etwas höheren Stimmenanteil für den PS und der mit Abstand höchste Zahl an Vorzugsstimmen für ihren Kandidaten Hasan Koyuncu. Sicher ist bisher nur, dass der DéFi-Bürgermeister Bernard Clerfayt sein Amt abgeben muss, nachdem seine Liste fast zwei Drittel ihrer Sitze verloren hat. Auch hier versucht der PS eine Mehrheit ohne MR zustandezubringen, bräuchte dafür aber außer den Grünen die Unterstützung von PTB/PVDA oder der Liste Fouad Ahidar.
Leisterh sieht dagegen den MR als den großen Wahlgewinner in Brüssel und leitet daraus den Anspruch auf eine größere Zahl an Bürgermeistern ab. Derzeit sind es drei: seit langem Vincent De Wolf in Etterbeek und Boris Dilliès in Uccle sowie – seit den Wahlen am 13. Oktober – David Leisterh in Watermael-Boitsfort. Zwar lag der MR auch in Anderlecht (in einer gemeinsamen Liste mit LE) knapp vorn, überließ aber dem bisherigen Bürgermeister Fabrice Cumbs das Amt. Auch in Ixelles bekam der MR mehr Stimmen als PS – aber weniger als der bisherige grüne Bürgermeister Christos Doulkeridis; trotzdem wurde der PS-Kandidat Romain De Reusme Bürgermeister. Für MR ging es wohl in beiden Fällen vorrangig darum, die Grünen aus der Ratsmehrheit zu verdrängen. Möglicherweise als „Gegenleistung“ scheint Leisterh jetzt zu erwarten, dass der PS in Forest und Schaerbeek zugunsten des MR auf das Amt verzichtet (in einer Koalition mit ihm). Es gebe schon „genug PS-Bürgermeister in Brüssel“ (derzeit sind es sechs). Für ihn gilt, wie er der RTBF sagte: MR-Bürgermeister in Forest und Schaerbeek – „sinon rien“. Für die Verhandlungen über die künftige Brüsseler Regionalregierung sind das keine guten Nachrichten. Dabei können die Probleme, die die Region bewältigen muss, eigentlich nicht warten.
Immerhin: solange es keine neue Brüsseler Regierung gibt, kann David Leisterh erst einmal sein neues Amt als Bürgermeister von Watermael-Boitsfort ausüben.
Danke an den lieben Reinhard (den ich herzlich Grüße). Trotz seiner Bemühung und seinem Talent, tue ich mich immer so schwer, die Arkanen der belgischen Politik zu verstehen !
LG
EF