Von Reinhard Boest
Während auf der föderalen Ebene Belgiens die potentiellen Partner der „Arizona-Koalition“ immer noch hoffen, vor Weihnachten ins Ziel zu kommen, sind die Verhandlungen über eine neue Regionalregierung in Brüssel total festgefahren. Sechs Monate nach der Regionalwahl und zwei Monate nach den Kommunalwahlen in den 19 Brüsseler Gemeinden erscheint das Licht am Ende des Tunnels ferner denn je (und damit ist diesmal nicht der Tunnel der Metrolinie 3 gemeint). (Siehe https://belgieninfo.net/neue-regierungen-in-bruessel-lassen-weiter-auf-sich-warten/)
Statt Verhandlungen über Poltik: die Sprachenfrage ist zurück
Obwohl die finanzielle Situation der Region desaströs ist und der wachsende Schuldenberg sich aktuell auf 22 Milliarden Euro beläuft, geht der Streit nicht darüber, wo man sparen oder wo man sonst Geld herbekommen kann. Es geht auch nicht um wichtige Projekte für die Region. So weit, darüber zu verhandeln, ist man noch gar nicht. Vielmehr beobachtet man die Wiederkehr grundsätzlicher Konflikte, die man eigentlich seit der Gründung der Region Brüssel-Hauptstadt im Jahr 1989 überwunden glaubte: die „Gemeinschaftsfrage“ – also der Streit zwischen Niederländischsprachigen und Frankophonen.
Es zeigt sich jetzt, wie unvollkommen und unpraktikabel der Kompromiss ist, auf dem die Institutionen und Verfahren beruhen, mit denen die Hauptstadtregion arbeiten muss. Das gilt insbesondere dann, wenn Wahlen zu fragmentierten Parlamenten führen, in denen schon zu „normalen“ Zeiten und trotz der den Belgiern nachgesagten besonderen Kompromissfähigkeit die Bildung von Mehrheiten immer schwieriger wird.
Region Brüssel-Hauptstadt: Verspätet und unvollkommen
Schon die erste von inzwischen sechs Staatsreformen sah 1970 die Bildung von drei Regionen in Belgien vor: Flandern, die Wallonie und Brüssel. Aber erst zehn Jahre später, mit der zweiten Staatsreform 1980, wurden die Regionen Flandern und Wallonie, unter anderem mit der Übertragung von Zuständigkeiten für Finanzen und eine Reihe weiterer Politikfelder von der föderalen Ebene, handlungsfähig. Es dauerte noch einmal fast ein Jahrzehnt, bis man sich endlich auch über die Regeln einigen konnte, nach denen die Region Brüssel funktionieren sollte; bis 1989 wurde die „Agglomeration“ von einem dreiköpfigen Ministerkollegium verwaltet, das dem föderalen Parlament verantwortlich war (ein Regionalparlament gab es ja noch nicht).
Vor allem die Flamen sträubten sich lange dagegen, Brüssel den Status einer vollwertigen Region zu geben. Dahinter stand nicht zuletzt die Befürchtung, ihre Sprache würde dann in der Region keine Rolle mehr spielen. Bis ins 19. Jahrhundert war “Brabants” oder „Brabançon“, ein niederländischer Dialekt, die Umgangssprache. Seit der Gründung des belgischen Staats 1830 mit Brüssel als Hauptstadt wurde diese durch Französisch – das auch Amts-, Gerichts- und Militärsprache wurde – immer mehr zurückgedrängt. Auch die Ansiedlung europäische Institutionen und des politischen NATO-Hauptquartiers förderte diesen Prozess. Heute ist zweifellos Französisch die lingua franca in Brüssel.
Sprachenregime in Brüssel: Zuviel Schutz für das Niederländische?
Wesentliches Kennzeichen des Statuts, das die Region Brüssel-Hauptstadt durch die dritte Staatsreform 1988 erhalten hat, ist daher die institutionelle Sicherung der Zweisprachigkeit, wie sie schon 1963 bei der Ziehung der Sprachgrenzen festgelegt wurde. Das entsprechende Gesetz vom Januar 1989 sieht daher sowohl für das Parlament als auch für die Regierung feste Quoten für die beiden Sprachgruppen vor. Von den 89 Mitgliedern des Parlaments werden 72 auf frankophonen Listen gewählt, 17 auf niederländischsprachigen.
Entspricht schon diese Verteilung kaum noch dem wirklichen Gewicht der jeweiligen Sprache, so sieht das Gesetz für die Zusammensetzung der Regierung sogar annähernd eine Parität vor. Neben dem Ministerpräsidenten oder der Ministerpräsidentin (die es bisher noch nicht gab) gehören der Regierung je zwei Minister(innen) aus jeder Sprachgruppe an. Außerdem darf es höchstens drei Staatssekretäre geben, von denen mindestens eine(r) aus der niederländischen Sprachgruppe sein muss. Das Parlament darf die Zahl der Regierungsmitglieder erhöhen – die Parität muss dabei aber gewahrt bleiben; auch darum ist das bisher wohl nicht vorgekommen. Jedenfalls braucht eine Regierung, um ins Amt zu kommen, eine Mehrheit in beiden Sprachgruppen des Parlaments.
Nach den Wahlen im Juni 2024: Blockade total
Dieses strikte Korsett hat wesentlich dazu beigetragen, dass nach der Wahl im Juni eine Regierungsbildung so zäh verläuft. Die niederländischsprachige Gruppe im Parlament ist so fragmentiert, dass die Suche nach einer Mehrheit fast unmöglich war: die 17 Sitze verteilen sich auf acht Parteien. Dabei gibt es eine Reihe von „No Go‘s“, also Parteien, mit denen der eine oder andere Partner in der eigenen oder der anderen Sprachgruppe auf keinen Fall zusammenarbeiten will: dies gilt für die Liste Fouad Ahidar (3 Sitze), den Vlaams Belang (2 Sitze) oder die linke PVDA (1 Sitz). Unter diesen Umständen muss eine Koalition mindestens vier flämische Parteien umfassen: Grüne (Groen, 4 Sitze), Sozialisten (Vooruit, 2 Sitze), Liberale (Open VLD, 2 Sitze) sowie Christdemokraten (CD&V, 1 Sitz) oder die flämischen Nationalisten (N-VA, 2 Sitze).
In der Regierung sind aber, wie beschrieben, nur drei Posten für flämische Politiker zu vergeben. Der einzige CD&V-Abgeordnete wollte sich auf die von der Verhandlungsführerin auf der niederländischsprachigen Seite, der noch amtierenden regionalen Verkehrsministerin Elke Van den Brandt (Groen), für den “vierten Partner” gefundene Lösung nicht einlassen. Stattdessen soll jetzt die N-VA teilnehmen. Wenn man gehofft hatte, dass jetzt die Verhandlungen mit den Frankophonen beginnen könnten, wurde man enttäuscht: jetzt kamen von allen Seiten „Giftpfeile“, die inzwischen für so viel Verstimmung gesorgt haben, dass keiner weiß, ob, wann und wie es weitergeht.
Giftpfeile aus allen Richtungen
Die Blockade auf der niederländischsprachigen Seite veranlasste Vertreter der Partei Défi (früher „Front der Frankophonen”, FdF) zu dem Vorschlag, man könne doch im Parlament auch Mehrheitsbeschlüsse ohne die Niederländischsprachigen fassen, etwa eine Regierung wählen. Kurz nach den Wahlen hatte auch der Chef der frankophonen Liberalen (MR), Georges-Louis Bouchez, die Minderheitenrechte der Niederländischsprachigen in Frage gestellt. Die von einer frankophonen Mehrheit im neugewählten Parlament im September durchgesetzte Abschwächung der Niedrigemissionszone (LEZ), gefolgt von einer Verschiebung der ab Anfang 2025 vorgesehenen “Elektrifizierung” der Brüsseler Taxis, waren deutliche Affronts gegen die grüne Verkehrsministerin.
Auf der anderen Seite stießen – altbekannte – Forderungen aus der N-VA auf Unmut bei den Frankophonen. So setzt sich die N-VA dafür ein, in Brüssel die Zahl der – derzeit 19 – Gemeinden zu reduzieren und die Polizei zu reformieren. Schon als klar wurde, dass auf Seiten der Niederländischsprachigen die N-VA im Boot sein würde, zog der Brüsseler PS-Chef Ahmed Laaouej die Notbremse und setzte eine weitere Teilnahme an den Verhandlungen vorerst aus. Die N-VA ist noch immer ein rotes Tuch für viele Frankophone in Brüssel, da sie verdächtigt wird, letztlich statt einer eigenständigen Region eine gemeinsame Verwaltung Brüssels durch Flandern und die Wallonie anzustreben.
Aber ohne PS fehlt auf der frankophonen Seite die Mehrheit. Die Grünen von Ecolo ebenso wie Défi wollen sich nach den heftigen Stimmenverlusten bei der Wahl aus der Regierung zurückziehen, und die Linksaußenpartei PTB ist für die beiden anderen Koalitionspartner (MR und Les Engagés) tabu. Hinzu kommt, dass es auch in anderen Bereichen zwischen PS und MR knirscht. Besonders auffällig ist das in der weiter offenen Frage, wer den künftigen Bürgermeister in der Gemeinde Schaerbeek stellen wird. Außerdem wollen die Sozialisten eine Mietpreisdeckelung im Parlament einbringen, die dann mit einer linken Mehrheit gegen den MR verabschiedet werden könnte. Blockade und Misstrauen sind also derzeit total, und der das Amt des Ministerprädidenten anstrebende Brüsseler MR-Vorsitzende David Leisterh kann allenfalls weiter sondieren statt endlich konkrete Koalitionsgespräche zu führen.
Das Dilemma der Sozialisten
Brüsseler Polit-Urgesteine wie der frühere PS-Ministerpräsident Charles Piqué oder der langjährige Minister Guy Vanhengel von den flämischen Liberalen warnen davor, dass eine weitere Zuspitzung letztlich den Fortbestand der Region aufs Spiel setzen könnte, weil sie nicht mehr handlungsfähig ist. Es hängt also alles davon ab, wie sich die Sozialisten verhalten werden. Ihnen dürfte bewusst sein, dass es ohne sie nicht geht. Es fällt ihnen aber offenbar schwer, sich damit abzufinden, dass sie jetzt Juniorpartner in einer eher rechten Regierung sein sollen statt wie in den vergangenen Jahren Chef einer linken Mehrheit.
Die Sozialisten wollen auf der föderalen Ebene eine starke Opposition sein, wären aber als Teil der Brüsseler Regierung auf die Hilfe einer möglicherweise von der N-VA geführten Föderalregierung angewiesen, um die finanziellen Probleme der Region zu lösen oder wichtige Infrastrukturprojekte umzusetzen – ein fast unlösbarer politischer Spagat. Selbst Piqué rät seinen Parteifreunden, nicht das Gespräch zu verweigern, sondern lieber Gegenforderungen zu stellen, die den Flamen nicht schmecken, wie die dringend nötige Verbesserung der Beziehungen zum Umland hin zu einer Art Metropolregion Brüssel.
Auf dem Papier wurde die Großregion zwar gesetzlich im Jahr 2012 beschlossen; in der Praxis ist davon aber wenig zu spüren. Vorgesehen ist eine bessere Abstimmung, nicht zuletzt in der Verkehrspolitik, zwischen den Gemeinden der einstigen Provinz Brabant, die sich heute auf die Region Brüssel sowie die Provinzen Flämisch-Brabant und Wallonisch-Brabant verteilen.
Kein Ausweg: Neuwahlen
Ein Ausweg aus der politischen Sackgasse bleibt vorerst versperrt: anders als ein deutscher Landtag darf ein belgisches Regionalparlament etwa in der Außenpolitik mitmischen (und kann auch EU-Abkommen blockieren) – aber es kann sich nicht selbst auflösen. Die belgische Verfassung ist da sehr klar: nur das föderale Parlament hat dieses Recht, die regionalen Parlamente sind an ihre fünfjährige Wahlperiode gebunden. Es bleibt also zu hoffen, dass sich die Parteien doch noch an einen Tisch setzen. Vor allem der MR sollte Interesse haben, endlich aus der Opposition auf die Regierungsbank zu wechseln.
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