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Tempo 30 und Mülltrennung in Brüssel: wie ernst sind die Regeln gemeint?

Von Reinhard Boest

Belgien ist ein liberales Land. Das merkt man daran, dass es zwar eine große Anzahl an Regeln gibt, die das Zusammenleben in geordnete Bahnen lenken sollen – sogar in zwei, manchmal drei Sprachen. In der täglichen Realität kommen diese Regeln allerdings zuweilen nicht so recht an. Einige werden von den Mitbürgerinnen und Mitbürgern anscheinend eher als Einladung oder Empfehlung angesehen. Was auch dadurch verstärkt wird, dass man in einigen Bereichen wenig Kontrollen befürchten muss. In Brüssel kann man das an zwei Beispielen gut beobachten: dem Straßenverkehr und der öffentlichen Sauberkeit.

Tempo 30 als Empfehlung?

Da ist zunächst das Großprojekt “Zone 30 in Brüssel”. Wer es vergessen haben sollte: Seit fast fünf Jahren gilt in allen 19 Gemeinden der Region Brüssel-Hauptstadt – außer auf bestimmten Hauptstraßen – flächendeckend eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 Kilometer pro Stunde (in sogenannten “Begegnungszonen” sogar nur 20 km/h). Um die Einhaltung zu kontrollieren, sollte die Zahl der fest installierten Radargeräte von 90 auf 150 erhöht werden, neben den mobilen Geräten. Es ist nicht bekannt, wie viele davon nur “erzieherischen” Charakter haben, der Fahrerin oder dem Fahrer also nur die gefahrene Geschwindigkeit anzeigen, ohne eine Überschreitung festzuhalten. Wenn man sieht, dass die Anzeige fast durchweg rot leuchtet, darf man am erzieherischen Wert zweifeln. Die Brüsseler Verkehrsverwaltung (Bruxelles Mobilité/Brussel Mobiliteit) hat für die ersten vier Jahre dennoch eine eher positive Bilanz gezogen. Immerhin gut die Hälfte, so hat man festgestellt, respektiert die 30 km/h, und ein weiteres Drittel fährt höchstens 10 km/h zu schnell. Die Begrenzung auf 50 Stundenkilometer wird immerhin von 84 Prozent eingehalten. Insgesamt ist die durchschnittlich gefahrene Geschwindigkeit seit 2021 zurückgegangen.

Das lässt sich für die Zahl der Unfallopfer nicht sagen. 2024 kamen 10 Menschen im Straßenverkehr ums Leben. 2021 waren es 8, im ersten “Post-Covid-Jahr” 2022 dagegen 24 und 2023 wieder “nur” 6. Die Zahl der Schwerverletzten (189) stieg gegenüber dem Durchschnitt der Vorjahre wieder leicht an. 28 Prozent der Opfer waren Fußgänger, weitere 54 Prozent waren auf zwei Rädern unterwegs (Fahrrad, Roller, Moped oder Motorrad).

Auch mit den Elektrorollern gibt es immer noch Ärger. Zwar hat sich die Zahl der Mietroller seit der Begrenzung der Anbieter deutlich verringert. Feste Abstellflächen haben dafür gesorgt, dass die Fahrzeuge nicht mehr an allen Orten herumstehen (oder liegen). Durch die automatisch abgeregelte Geschwindigkeit können die Mietroller in Fußgängerzonen nicht mehr ungebremst durch die Menge rasen. Für eigene Roller gibt es diese technischen Einschränkungen nicht. Und bei Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit oder der Nutzung durch mehr als eine Person kann man sie nicht einmal identifizieren; denn anders als Mietroller oder E-Roller in Deutschland müssen sie kein Kennzeichen tragen.

Eines der Ziele der Brüsseler Mobilitätspolitik ist es bisher, bis 2030 die Zahl der Toten und Schwerverletzten im Straßenverkehr auf Null zu bringen. Ob man das mit der doch eher nachsichtigen Kontrollpraxis erreichen kann?

Bei der öffentlichen Sauberkeit geht es jetzt zur Sache

In einem anderen Bereich will man jetzt aber anscheinend die Schrauben anziehen. Die mangelnde Sauberkeit in Brüssel wird Umfragen zufolge als störender wahrgenommen als etwa der Konsum von Alkohol oder Drogen in der Öffentlichkeit. Auch in den Wahlprogrammen der Parteien vor der Wahl im vergangenen Jahr stand das Thema an prominenter Stelle.

Seit kurzem sieht man in den Straßen Brüssels Plakate, die denjenigen ein Bußgeld von 300 Euro androhten, die ihren Müll nicht korrekt trennen. Das ist der sichtbare Ausdruck des diesjährigen “Sauberkeits-Triathlons”, mit dem die für die Stadtreinigung zuständigen Dienste der Region und der Gemeinden für die Einhaltung der geltenden Regeln sorgen wollen.

Vor gut zwei Jahren wurden in den meisten Brüsseler Gemeinden verschiedenfarbige Müllsäcke für die getrennte Sammlung von Abfällen eingeführt: gelb für Papier, orange für organische Abfälle, blau für Metall und Plastik, grün für Gartenabfälle und weiß für den Rest. Aber auch heute sind anscheinend viele nicht in der Lage – oder nicht willig -, sich daran zu halten. Müllsäcke werden nicht an den “richtigen” Tagen an die Straße gestellt (und bleiben dann liegen) oder es wird alles in einem Sack entsorgt. Auch die Nutzung der kostenlos zur Verfügung gestellten Tonnen findet eher sporadisch statt. Beides freut Vögel, Füchse und Ratten, die sich mit Genuss über die Säcke hermachen und ihren Inhalt großzügig verstreuen. Der bleibt dann oft tagelang liegen, denn die Besatzung der Müllfahrzeuge nimmt sie nicht mit.

Das diesjährige “Sauberkeits-Triathlon” hat im September in 15 Brüsseler Gemeinden (alle außer Ganshoren, Molenbeek-Saint Jean, Koekelberg und Saint Gilles) begonnen und dauert noch bis Januar. Zunächst erfolgt eine Bestandsaufnahme; die Säcke werden gezählt (um am Ende der Aktion Bilanz ziehen zu können) und mit einem Aufkleber versehen, wenn sie “falsche” Abfälle enthalten oder zur falschen Zeit an die Straße gestellt wurden. Auch “wilde” Müllentsorgung wird registriert.

In der zweiten Stufe, sechs Tage später, wendet man sich persönlich an die Anlieger, bei denen man ein Fehlverhalten festgestellt hat, um sie zu sensibilisieren (und wohl auch zu ermahnen). Erst in der dritten Phase, eine weitere Woche später, wird es “ernst”. Regelwidrig abgestellte (oder gefüllte) Müllsäcke werden untersucht, um die Verantwortlichen festzustellen. Diese können dann mit einem Bußgeld bis zu 300 Euro belegt werden, eventuell sogar höher, wenn die Säcke etwa gefährliche Abfälle enthalten.

Am Ende der Aktion steht nicht nur ein Dank an alle, die sich an die Regeln halten, sondern auch eine Veröffentlichung der Ergebnisse, um von künftigen Verstößen abzuhalten. Ob der Triathlon in diesem Jahr erfolgreicher sein wird? Die Brüsseler Stadtreinigung (“Bruxelles Propreté/Net.Brussels”) verhängt jedes Jahr gut 1000 Bußgeldbescheide für Verstöße der genannten Art. Und im Jahr 2024 wurden 5200 Tonnen an wild abgelegtem Müll eingesammelt. Es bleibt also anscheinend eine dauernde Herausforderung, wenn die angestrebte Trennung (und damit auch Verwertung und Reduzierung) des Mülls nicht eine bloße Empfehlung bleiben soll.

Beide Themen werden übrigens wohl auch in den noch immer andauernden Bemühungen um eine neue Brüsseler Regionalregierung eine wichtige Rolle spielen. Denn die potentiellen Partner sind hier durchaus nicht einer Meinung.

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