Von Michael Stabenow
Der zweite Dienstag im Oktober ist im politischen Kalender Belgiens dick angestrichen. Der Regierungschef hält dann in der Abgeordnetenkammer eine Rede zur Lage des Landes und gibt einen Ausblick auf die kommenden Herausforderungen. In diesem, auch in Belgien durch den Krieg in der Ukraine und die Folgen beherrschten Jahr versicherte Premierminister Alexander De Croo, die Regierung werde, wie auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie, niemanden fallen lassen. Aber er dämpfte auch die Erwartungen: „In diesen aufgewühlten Zeiten gibt es keine Zauberlösungen“, sagte der flämische Liberale.
Diese Erkenntnis spiegelt der Haushaltsentwurf für die Jahre 2023 und 2024 wider, auf den sich die Spitzenvertreter der „Vivaldi“-Koalition aus Liberalen (Open VLD und MR), Sozialdemokraten (PS und Vooruit) und Grünen (Ecolo und Groen) beider Landesteile sowie der flämischen Christdemokraten (CD&V) zuvor in einer nächtlichen Sitzung verständigt hatten. Auf den ersten Blick kann sich das Ergebnis sehen lassen: Da die Regierung unter dem Strich 3,6 Milliarden Euro – 0,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)- einzusparen hofft, könnte die staatliche Neuverschuldung 2024 auf 3,2 Prozent des BIP sinken. Das sind gerade einmal 0,2 Prozentpunkte oberhalb der von der Europäischen Union mit dem Maastrichter Vertrag vorgegebenen Obergrenze.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sich die sieben Koalitionspartner in vielen Fällen nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigen konnten und ein „großer Wurf“ ausgeblieben ist. Der Wunsch der Sozialdemokraten nach einer stärkeren Besteuerung von Wertpapierkonten besonders wohlhabender Zeitgenossen blieb unerfüllt. Sie konnten jedoch durchsetzen, dass das nicht unumstrittene System der automatischen Anpassung der Löhne, Gehälter und Pensionen an die Inflationsrate erhalten bleibt.
Die Liberalen konnten im Gegenzug erreichen, dass die Arbeitgeberbeiträge im ersten Halbjahr 2023 so gekürzt werden, dass sie letztlich und bis auf weiteres keine Nachteile durch das Indexierungssystem erleiden. Für die eine Milliarde Euro an Entlastungen, die dafür eingeplant sind, muss freilich der Staatshaushalt – und damit die Steuerzahler – aufkommen. Nicht nach dem Geschmack der Liberalen dürfte es sein, dass die Beiträge der Banken zu einem Garantiefonds nicht mehr steuerlich absetzbar sein sollen. Dies soll dem Staat in den kommenden zwei Jahren knapp 300 Millionen Euro Mehreinnahmen bescheren.
Die Grünen, die unlängst mit der Entscheidung zur Verlängerung der Laufzeiten der Kernreaktoren Doel 4 (bei Antwerpen) und Tihange 3 (zwischen Namur und Lüttich) schon eine dicke Kröte geschluckt haben, können sich zugute schreiben, dass es in Belgien rückwirkend zum 1. Januar zu einer „Übergewinnsteuer“ für Energieunternehmen kommt. Von Dezember an wird sie sogar über die EU-Vorgaben hinaus erhöht, so dass bis Mitte kommenden Jahres drei Milliarden Euro in die Staatskasse gespült werden könnten.
Das Aufkommen soll nicht zuletzt dazu dienen, die bestehenden und nun zunächst bis Ende März verlängerten Entlastungsmaßnahmen in der Energiepreiskrise zu finanzieren. Dazu zählen die ermäßigten Mehrwertsteuersätze auf Gas und Strom, der „Sozialtarif“ für rund eine Million Menschen, die allen Haushalten zugesagten Abschläge bei den Gas-, Strom- und Heizölkosten sowie der den Autofahrern in Belgien, anders als in Deutschland, weiter gewährte Tankrabatt. Dass der Staat in den kommenden zehn Jahren drei Milliarden Euro zur Modernisierung des Eisenbahnnetzes aufwenden soll, schreiben sich vor allem die Grünen auf ihre Fahnen – allerdings waren auch da zuletzt höhere Beträge im Gespräch.
Die flämische CD&V, die auch unter ihrem neuen Vorsitzenden Sammy Mahdi weiter im Umfragetief steckt, musste hinnehmen, dass die Möglichkeiten von privat Beschäftigten eingeschränkt werden, eine berufliche Auszeit zur Betreuung von Kindern oder auch älteren hilfsbedürftigen Menschen zu nehmen. Das von Finanzminister Vincent Van Peteghem seit Amtsantritt verfolgte Projekt einer Steuerreform, die mit Entlastungen für die meisten Bürger einhergehen soll, lässt weiter auf sich warten. Im Dezember soll es konkretisiert werden und bereits im kommenden Jahr seine Wirkung entfalten. Aber konkret ist das Vorhaben noch nicht.
Dass Oppositionspolitiker an den gefassten (und auch den nicht gefassten) Beschlüssen der Regierung kein gutes Haar lassen, ist kaum verwunderlich. Der Vorsitzende der Neu-Flämischen Allianz (N-VA), der Antwerpener Bürgermeister Bart De Wever, schrieb auf Twitter: „Vollkommen unverantwortlich.“ Belgien weise in der EU bei öffentlichen Ausgaben, Steuerdruck und strukturellem Haushaltsdefizit mit die schlechtesten Zahlen auf. Mit dem für ihn charakteristischen ätzenden Humor zog De Wever das Fazit: „Die föderale Regierung sorgt mit diesem Nicht-Haushalt dafür, dass wir diese drei bedenkliche Preise mit noch etwas mehr Glanz holen.“
De Croo seinerseits gab im Parlament zu bedenken, dass die jetzt vorgelegten Haushaltspläne „nicht das letzte Wort“ seien. Er trat aber dem Vorwurf entgegen, dass die Koalition nichts tue. Der Regierungschef zählte weitere Vorhaben wie die belgische „Energiewende“ oder auch weitere Reformen des Arbeitsmarkts und des Gesundheitswesens auf. „Es ist immer eine Option, die Augen zu schließen und nichts zu tun. Aber dann wären die Kosten für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft um ein Vielfaches höher“, sagte De Croo.
Auffallend war, dass der Regierungschef ein Thema aussparte, das mit Blick auf die im Mai 2024 anstehenden nächsten Parlamentswahlen von zentraler Bedeutung sein dürfte: die Zukunft des belgischen Staates. Zwei Regierungsmitglieder, Innenministerin Annelies Verlinden (CD&V) und der stellvertretende Premierminister und Mittelstandsminister Daniel Clarinval, ein wallonischer Liberaler, sind mit dem Dossier einer weiteren, dann siebten Staatsreform federführend betraut worden. Offizielle Vorschläge, wie das Verhältnis innerhalb des belgischen Bundesstaats längerfristig möglichst gedeihlich geregelt werden kann, lassen jedoch noch auf sich warten. Kein Zweifel: der „Vivaldi“-Koalition stehen weitere stürmische Zeiten bevor.
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