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Streit um „Saugnapf-Autos“ in Brüssel

© Sibelga

Von Reinhard Boest

Wer hat schon einmal von „Saufnapf-Autos“ gehört? Die „voitures ventouses“ sorgen schon seit längerem in Brüssel für politischen Streit. Es geht um Elektro-Autos, die an Ladepunkten an den öffentlichen Straßen länger stehenbleiben, als sie für das Aufladen der Batterie eigentlich müssten. Sie nehmen dadurch nicht nur den Besitzern anderer Elektrofahrzeuge den Platz weg, die auch gern aufladen würden. Für die Gemeinden, in denen die Ladepunkte stehen, führt das Phänomen auch zu Einnahmeausfällen: für die Plätze an den Säulen fallen nämlich derzeit keine Parkgebühren an, wie sie sonst im Stadtgebiet immer öfter die Regel sind. Mit diesem „Privileg“ sollte ein Anreiz für die Anschaffung von E-Autos gesetzt werden – als Teil der Strategie der Region, bis 2050 klimaneutral zu werden. Andere Elemente sind die Einführung von Niedrig-Emissions-Zonen (LEZ), mit denen schrittweise bis 2035 Personenkraftwagen mit Verbrennungsmotor aus der Stadt verdrängt werden sollen (Diesel-Pkw schon 2030), oder das Projekt „Good Move“ (siehe Belgieninfo-Artikel „Good Move“ Brüssel: was bleibt davon nach der Wahl?).

Ende 2022 wurde das Konzept „electrify.brussels“ von der Regionalregierung angenommen. Es sieht einen umfassenden Ausbau der Ladeinfrastruktur in Zusammenarbeit mit dem Betreiber des Brüsseler Stromnetzes Sibelga vor. 2024 soll sich im Umkreis von 150 Metern von jedem Brüsseler Haushalt eine öffentliche Ladesäule befinden, und die Zahl öffentlich zugänglicher Ladepunkte soll bis 2025 bei 9.500 und 2035 bei 22.000 liegen. Zum Zeitpunkt der Annahme des Plans zählte man in Brüssel 1.800, Mitte 2024 war man bereits bei etwa 7.000. Wie der belgische Branchenverband für Elektromobilität EV Belgium Anfang Juli mitteilte, hat sich die Zahl der öffentlichen Ladestationen in Belgien gegenüber dem Vorjahr auf rund 70.000 verdoppelt. Davon liegen drei Viertel in Flandern, nur 15 Prozent in der Wallonie und immerhin 10 Prozent in der Region Brüssel-Hauptstadt. Diese Steigerung entspricht der Dynamik bei der Zahl der neu zugelassenen E-Autos, mit der Belgien (das heißt hier vor allem Flandern) in Europa zur Spitze gehört.

Damit werden Elektroautos aber in den Augen mancher Bürgermeister in Brüssel auch zum Problem. Nicht nur wegen der ausfallenden Parkgebühren, sondern auch wegen des zunehmenden Unmuts der Fahrer von Benzin- und Dieselautos, die weiter zur Kasse gebeten werden. In den Brüsseler Gemeinden Ixelles und Saint Gilles wurde daher eine Steuer auf die Ladesäulen eingeführt. Das führte wiederum zu Protesten bei den Betreibern der Anlagen, die ihr Investitionsmodell in Frage gestellt sehen (der Betrieb erfolgt auf der Basis von Konzessionen, die von der Region vergeben werden). Die Einführung einer Steuer während der Laufzeit der Konzession sei unzumutbar, vor allem, wenn die Belastung nicht an die Nutzer weitergegeben werden könne.

Andere Gemeinden sehen die Gefahr eines Flickenteppichs, wenn jede Gemeinde ihr eigenes Modell verfolgt, was die angestrebte Zielsetzung einer flächendeckenden Versorgung in Frage stellen könnte. Die Konferenz der Bürgermeister der 19 Gemeinden konnte sich bisher nicht auf eine einheitliche Linie verständigen. Über eine – mehr oder weniger einheitliche – Steuer gibt es keinen Konsens, wie der Bürgermeister von Etterbeek, Vincent De Wolf, mitteilt, der bis zum Ende des Jahres den Vorsitz in diesem Gremium führt. Auch er selbst sei gegen eine solche Steuer. Außerdem brauche man über die Anwendungsmodalitäten eine Abstimmung mit der Region.

Was also tun gegen die Unsitte der „Saugnapf-Autos“, wenn die Besitzer nicht von sich aus einsehen, dass sie sich eigentlich unsozial verhalten? Zwei Möglichkeiten stehen zur Wahl: entweder man streicht die Befreiung von den Parkgebühren oder man führt einen „Rotationstarif“ für den Ladestrom ein, der ansteigt, wenn der Ladevorgang abgeschlossen ist. Mit der ersten Alternative würde man die Anreizwirkung für die Nutzung von E-Autos teilweise zurückfahren. Die zweite scheint größere Realisierungschancen zu haben, zumal sie in anderen Städten schon praktiziert wird. Die mit dem Zuschlag erzielten Einnahmen könnten vom Betreiber an die Gemeinde weitergegeben werden und könnten so die Ausfälle an Parkgebühren jedenfalls etwas kompensieren. Mit einem Anreiz, sich nach dem Ladevorgang nicht länger „festzusaugen“, wären die Säulen für mehr Nutzer verfügbar, und man bräuchte weniger von ihnen. Das Modell wird im Konzept der Region ausdrücklich erwähnt, über die Umsetzung wird aber nichts gesagt.

Auf jeden Fall ist eine Diskussion und Entscheidung unter Beteiligung aller Gemeinden und der Region notwendig. Vincent De Wolf weist zu Recht darauf hin, dass es nach den Wahlen vom 9. Juni bisher keine neue Regionalregierung gibt (wahrscheinlich unter Führung der fankophonen Liberalen der MR – Mouvement Réformateur – unter David Leisterh). Im Oktober werden aber auch die Gemeinderäte und Bürgermeister neu gewählt. Und erst danach wird sich wohl zeigen, wie viel von der Mobilitätspolitik der bisherigen Regierung bleibt (vor allem von „Good Move“) und wie sich die Gemeinden positionieren. Absehbar ist aber, dass es für „Saugnapf-Autos“ schwieriger wird.

 

 

 

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