Von Reinhard Boest
Die Straßenverkehrssicherheit und insbesondere der Umgang mit Wiederholungstätern stehen in diesen Tagen wieder einmal im Mittelpunkt des Interesses in Belgien. Viele werden sich noch an das Drama von Strépy-Bracquegnies (Provinz Hennegau) erinnern; dort war vor zwei Jahren ein Autofahrer in mit überhöhter Geschwindigkeit in eine Gruppe von Karnevalisten (“Gilles”) gefahren und hatte sechs Menschen getötet (der Gerichtsprozess lässt übrigens noch immer auf sich warten). Vor einigen Tagen verlor im Hafengebiet von Gent ein Fahrer die Kontrolle über sein Auto und fuhr in eine Gruppe von Radfahrern, von denen zwei tödlich verletzt wurden.
Beide Fahrer standen unter Alkoholeinfluss, und beide waren Wiederholungstäter, denen bereits einmal die Fahrerlaubnis entzogen worden war. Gegen den Mann, der den Unfall in Gent verursacht hat, war nach mehreren schwerwiegenden Verkehrsverstößen sogar ein zehnjähriges Fahrverbot verhängt worden. Das sind zugegebenermaßen besonders krasse Fälle, die ein landesweites Echo fanden. Die Straße bleibt aber allgemein ein gefährliches Pflaster, vor allem für die schwächeren Verkehrsteilnehmer, also diejenigen, die nicht in einem Auto sitzen. Seit Jahren gibt es Bestrebungen, die Sicherheit zu verbessern, die Fortschritte sind aber überschaubar.
Das Ziel: keine Verkehrstoten mehr im Jahr 2050
Am 30. Januar 2024 fand – von der Öffentlichkeit weitgehend umbemerkt – zum dritten Mal die jährliche Konferenz “All for Zero” statt, mit der Teilnahme der auf föderaler und regionaler Ebene für Verkehrssicherheit zuständigen Minister sowie weiterer Akteure. Im Jahr 2021 hatte man sich zum Ziel gesetzt, die Zahl der jährlichen Verkehrstoten bis 2030 um die Hälfte gegenüber dem Referenzjahr 2019 zu verringern; 2050 soll es keine Verkehrstoten mehr geben. Dies beruht auf einer entsprechenden Initiative der EU aus dem Jahr 2017.
Grundlage der Konferenz war ein Bericht über die Situation der Straßenverkehrssicherheit in Belgien, der vom Brüsseler Verkehrsforschungsinstitut VIAS vorgelegt wurde. 2019 kamen auf den belgischen Straßen 644 Menschen ums Leben, 2023 waren es nach vorläufigen Schätzungen etwas mehr als 500. Trotz dieses Rückgangs liegt Belgien im europäischen Vergleich über dem Durchschnitt; 2019 gab es 56 Verkehrstote pro eine Million Einwohner, im EU-Durchschnitt waren es 51. Deutlich niedriger sind die Zahlen in den Nachbarstaaten Niederlande (34), Deutschland (37) und auch Frankreich (50). Im Jahr 2000 lag diese Zahl in Belgien allerdings noch bei 144.
Ein Aktionsplan mit 32 Maßnahmen
Der Aktionsplan “All for Zero” hatte Ende 2021 insgesamt 32 Maßnahmen zusammengestellt, die zu mehr Sicherheit beitragen sollen. Das reicht von einer Verbesserung des Miteinanders der Verkehrsteilnehmer über die soziale Ächtung riskanter Verhaltensweisen, Kontrollen, Sanktionen und Schulungen bis zu besserer Datenauswertung und Erfahrungsaustausch. Das Ganze soll begleitet werden von lokalen Projekten, für die sich Kandidaten aus der Zivilgesellschaft jedes Jahr bewerben können. Ist der Themenkatalog schon umfangreich genug, wird die Umsetzung konkreter Maßnahmen durch die unübersichtliche Zuständigkeitsverteilung in Belgien – Föderalstaat, Regionen, Provinzen, Gemeinden – zusätzlich erschwert.
Welches sind die größten Gefahren?
Die besonders gefährlichen Verhaltensweisen von Verkehrsteilnehmern (vor allem Autofahrern) sind hinreichend bekannt: Fahren unter Alkohol- oder Drogeneinfluss, überhöhte Geschwindigkeit, Nichtanlegen des Sicherheitsgurts und Abgelenktsein am Steuer (also zum Beispiel die Nutzung von Handys ohne Freisprecheinrichtung). Aus dem neuesten VIAS-Bericht lässt sich entnehmen, dass die Anzahl der Geschwindigkeits- und Alkoholkontrollen in Belgien relativ hoch ist. 2015 waren etwa in Belgien über 700 fixe, mobile oder Strecken-Radargeräte im Einsatz (die Zahl der leeren “Starenkästen” nicht mitgezählt); die Zahl ist seither noch einmal deutlich gestiegen, neuere Zahlen konnte VIAS aber nicht herausfinden. Trotz der hohen Kontrolldichte lassen sich in Belgien so viele Temposünder erwischen wie in fast keinem anderen EU-Land; nur in den Niederlanden und in Österreich ist die Zahl noch höher. In den 30er-Zonen werden die Geschwindigkeitsbeschränkungen anscheinend besonders oft missachtet. Nach Zahlen von 2015 hielten sich 90 Prozent nicht daran; die Durchschnittsgeschwindigkeit betrug 43 km/h. Augenscheinlich hat sich daran in Brüssel, wo seit Anfang 2021 flächendeckend Tempo 30 gilt, wenig geändert.
Wie soll man mit Wiederholungstätern umgehen?
Als schwierig erweist sich weiterhin, wie man das Problem der Wiederholungstäter angehen soll. Die geschilderten Fälle sind besonders gravierend, aber das Phänomen ist weiter verbreitet, als es auf den ersten Blick scheint. Eine Wiederholungstat kann nämlich nur dann eine höhere Strafe nach sich ziehen, wenn auch die vorangegangene Tat eine Straftat war – und nicht nur ein Verstoß, der nur mit einem Bußgeld zu ahnden war. Nur bei schwereren Vergehen kann neben Geld- oder Freiheitsstrafen auch der Entzug der Fahrerlaubnis angeordnet werden. Beispiele sind Trunkenheitsfahrten, Fahrerflucht oder erhebliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Für viele weniger schwere – aber möglicherweise trotzdem gefährliche – Verstöße bleibt es dagegen bei Geldbußen, selbst bei mehrfacher Wiederholung, etwa geringe Geschwindigkeitsüberschreitungen, mäßigen Alkoholgenuss oder die Nutzung des Smartphones am Steuer. Nach einer VIAS-Studie ist es nur in Belgien möglich, mehrere verschiedene Verkehrsverstöße zu begehen, ohne durch mehr als Bußgelder “behelligt” zu werden.
Die Statistik zeigt jedoch, dass Autofahrer, die mehrfach “einfachere” Verstöße begehen, häufiger auch an Unfällen beteiligt sind. Anders als etwa bei einem Punkteführerschein ist das Gericht aber bisher gehindert, solche “Vorgeschichten” bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Der Punkteführerschein ist aber in Belgien trotz mehrerer Anläufe immer wieder an der Uneinigkeit der Koalitionen gescheitert.
Als Reaktion auf den Unfall in Gent – und in der Erkenntnis, dass es ein Punktesystem in Belgien so schnell nicht geben wird – haben jetzt die zuständigen Föderalminister Georges Gilkinet (Ecolo, Verkehr) und Paul Van Tigchelt (OpenVLD, Justiz) einen Runderlass an die Staatsanwaltschaften angekündigt. Danach soll bei einer Häufung von mit einem Bußgeld bewehrten Verstößen über einen bestimmten Zeitraum der Täter vor das Polizeigericht zitiert werden können. Je nach Schwere des Verstoßes soll das Gericht dann nicht nur ein höheres Bußgeld verhängen, sondern ihm auch die Fahrerlaubnis für bis zu fünf Jahre entziehen und eine “Reintegrationsschulung” anordnen können. Die Einzelheiten, wie insbesondere die Zahl der Verstöße, ab der die Regelung gelten soll, oder der zu berücksichtigende Zeitraum, bedarf noch der Verhandlung mit den Generalstaatsanwälten. Es muss also abgewartet werden, ob wirklich Ernst gemacht wird mit Wiederholungstätern.
Maßnahmen, die Autofahrer betreffen, sind bekanntlich politisch äußerst sensibel, nicht nur in Belgien. Das hat sicher auch mit einigen Umfragen zu tun, die im VIAG-Bericht zitiert werden, wie etwa über die Akzeptanz von Geschwindigkeitsbeschränkungen. Auch in der vergangenen Woche gab es dafür gerade wieder ein Beispiel mit der Debatte im Europäischen Parlament über die Aktualisierung der Führerschein-Richtlinie, nicht nur wegen der – letztlich abgelehnten – obligatorischen Fahrtüchtigkeitsprüfung für ältere Fahrerinnen und Fahrer.
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