Von Reinhard Boest
Vor einigen Tagen läuteten im französischsprachigen Fernsehen RTBF die Alarmglocken. Es ging wieder einmal um die künftige Metro-Linie 3, die den Norden und den Süden Brüssels verbinden soll. Das Projekt nimmt – wenn man der Darstellung in der Sendung “#Investigation” folgt – inzwischen pharaonische Ausmaße an, was den technischen Aufwand, die Bauzeit, aber vor allem die Kosten angeht.
Belgieninfo hat regelmäßig über den Fortgang dieses Projekts berichtet, das manche für das größte Bauvorhaben der Stadt halten (zuletzt im November 2023: .https://belgieninfo.net/warten-auf-die-metro-3/). Allerdings ist in der Vergangenheit noch keine Metrolinie in einem Stück gebaut worden, sondern immer in Teilabschnitten über viele Jahre. Die Arbeiten haben vor ziemlich genau vier Jahren zwischen der Gare du Midi und der Place Fontainas begonnen (siehe https://belgieninfo.net/neue-metrolinie-3-in-bruessel-es-geht-los/). Der Tunnel unter der Avenue de Stalingrad ist weit fortgeschritten. Kein Licht am Ende des Tunnels ist allerdings für die von den Arbeiten betroffenen Anlieger zu sehen. Sie müssen damit rechnen, noch für weitere Jahre hinter Bauzäunen leben zu müssen – wenn sie nicht zwischenzeitlich aufgegeben haben.
Dabei sollte die Aufrüstung der bestehenden Pre-Metro zu einer richtigen Metro zwischen dem Nordbahnhof und der Station Albert in der Gemeinde Forest eigentlich in diesem Jahr fertig werden. Inzwischen ist von 2030 die Rede; und statt der zu Beginn der Planungen – vor mehr als 15 Jahren – geschätzten Kosten von rund einer Milliarde Euro gehen manche jetzt von über vier Milliarden aus. An zwei Stellen sind die Arbeiten seit längerem unterbrochen: Vor zwei Jahren stellte sich heraus, dass die Unterfahrung des Palais du Midi nicht mit der Technik möglich ist, die man dafür vorgesehen hatte. Jetzt läuft es auf einen Teilabriss des Gebäudes mit anschließendem Wiederaufbau hinaus – was zusätzlich Zeit und vor allem Geld kostet: vier Jahre und rund 400 Millionen Euro für diese 100 Meter Tunnelstrecke (siehe https://belgieninfo.net/die-unendliche-geschichte-der-bruesseler-metrolinie-3/). Und vor einem Jahr ist man bei den Arbeiten unter dem Nordbahnhof auf eine Wasserader gestoßen, die anscheinend so ergiebig ist, dass man mit dem Abpumpen nicht nachkommt. Jedenfalls ist wohl derzeit an einen Weiterbau des Tunnels an dieser Stelle nicht zu denken.
Wie konnte dazu kommen, und wie geht es weiter? Diesen Fragen gingen die Journalisten in der RTBF-Sendung nach. Brieuc de Meeûs, der Generaldirektor des Brüsseler Nahverkehrsunternehmens STIB/MIVB, verteidigte das Projekt gab den Ingenieurbüros die Schuld, die mit den Bodenuntersuchungen beauftragt waren. Jeder wisse, dass Brüssel auf weichem Grund stehe (daher ja auch der Name), darum hätte sorgfältiger geprüft werden müssen. Auf der anderen Seite forderte Marion Alecian, Direktorin der ARAU, einer Nichtregierungsorganisation im Bereich Urbanistik und Umwelt, erneut einen Stopp des gesamten Projekts und stattdessen eine Reorganisation des Premetro- und Straßenbahnnetzes. Der Architekt und Stadtplaner Bruno Clerbaux hielt wegen des “heterogenen” Untergrunds in Brüssel weitere Überraschungen nicht für ausgeschlossen.
Der Ökonom Maxime Fontaine von der Freien Universität Brüssel warf die Frage auf, ob es nicht vorzuziehen sei, trotz der erheblichen bereits aufgelaufenen Ausgaben das Projekt lieber abzublasen, weil die am Ende unabsehbaren Kosten die Schuldentragfähigkeit der Region überfordern würden. Mögliche Finanzierungsalternativen wurden zwar in den vergangenen Monaten diskutiert, aber konkrete Perspektiven sind derzeit nicht in Sicht (siehe https://belgieninfo.net/mit-seinem-groessten-verkehrsprojekt-hat-bruessel-kein-glueck/). Die Kostensteigerungen werden anscheinend als schicksalhaft angesehen. Neben den höheren Preisen vor allem für Material und Energie, die die gesamte Bauwirtschaft treffen, gibt es bei derart großen Projekten auch kaum Anbieter und daher auch wenig Wettbewerb. Der Direktor der föderalen Infrastrukturgesellschaft Beliris, die den Nordabschnitt der Metro 3 bauen soll, hat schon im Mai 2023 auf im Vergleich zu anderen Aufträgen “unerklärliche” Preissteigerungen hingewiesen. Und die öffentliche Hand kann sich der Situation auch nicht durch ein Konkursverfahren entziehen, wie es in der Privatwirtschaft in vergleichbarer Lage wohl unausweichlich wäre.
Wie es weitergeht, kann anscheinend derzeit niemand definitiv sagen. Unmittelbar vor den anstehenden Wahlen wird es diesmal – anders als vor den Regionalwahlen 2019 – aber keine last minute-Entscheidungen geben, also etwa die förmliche Genehmigung für den Abriss des Palais du Midi, um Fakten zu schaffen. Alles hängt davon ab, welche Parteien die künftige Regionalregierung bilden werden und wie diese zum Projekt “Metro 3” stehen. Wie sich die Parteien positionieren, konnte man etwa anlässlich einer Debatte im Verkehrsausschuss des Brüsseler Parlaments Ende Mai 2023 beobachten: Bis auf die Grünen (Ecolo) sprachen sich alle Parteien für eine Fortsetzung aus. Dies bestätigt ein Blick in die Wahlprogramme, soweit sie zu dem Thema etwas sagen. MR, DéFi und “Les Engagés” sind ausdrücklich dafür, PTB anscheinend auch, Ecolo eher dagegen; PS und N-VA schweigen dazu. Über die Finanzierung sagt allerdings niemand etwas.
Vielleicht hat also STIB-Direktor de Meeûs am Ende Recht: “Ich kann Ihnen nicht sagen, ob die Arbeiten 2035 oder 2045 abgeschlossen sein werden. Aber eines Tages, davon bin ich überzeugt, werden wir die Nord-Süd-Metro haben.” Immerhin war sie von Anfang an in den Plänen für das Brüsseler Metro-Netz vorgesehen – und die stammen aus dem Jahr 1969.
Erst einmal wird aber wohl der Stillstand anhalten. Im kleinen bewegt sich aber doch manchmal etwas: am Oster-Wochenende war der Premetro-Tunnel zwischen Nord- und Südbahnhof gesperrt, weil eine Tunnelwand für die Verbindung zur neuen Linie durchbrochen wurde.
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