
Die STIB präsentiert mehrere Optionen für das weitere Vorgehen – aber es fehlt weiter an einer Regierung, die darüber entscheiden könnte.
Von Reinhard Boest
Brüssel wartet weiter auf eine Regierung
Dreizehn Monate nach den Wahlen hat die Region Brüssel-Hauptstadt noch immer keine neue Regierung. Der französischsprachige Sozialist Rudi Vervoort (PS) amtiert weiter mit seinem Kabinett aus Sozialisten, Grünen und Liberalen (jeweils aus beiden Sprachgruppen), allerdings nur geschäftsführend und damit ohne das Mandat für maßgebliche politische Weichenstellungen. Trotz der fast untragbaren Schuldenlast muss sich die Region mit einer monatlichen Haushaltsführung durchkämpfen, die jeweils ein Zwölftel des letzten regulären Haushalts (also des Jahres 2024) umfasst. Laufende Ausgaben für wichtige Politikbereiche geraten so immer mehr unter Druck.
Am flämischen Feiertag an diesem Donnerstag flogen erneut Giftpfeile zwischen den flämischen Nationalisten (N-VA) und dem Brüsseler PS, der die N-VA auf keinen Fall als Koalitionspartner akzeptieren will (Belgieninfo hat regelmäßig berichtet). Kurz vor der politischen Sommerpause, die nach dem Nationalfeiertag am 21. Juli beginnt, gibt es noch einmal Signale, dass sich die unverzichtbaren Hauptpartner einer stabilen Koalition – die frankophonen Liberalen des MR und der PS – vielleicht doch noch kurzfristig zusammenfinden. Aber vielleicht handelt es auch nur um eine weitere Runde im PR-Wettstreit, wer an dem Stillstand Schuld hat, damit man mit ruhigerem Gewissen in den Urlaub fahren kann.
Das Projekt der Metrolinie 3 weiter in der Warteschleife
Für eines der wichtigsten Projekte der Region wird es aber wohl keine Sommerpause geben: wie geht es weiter mit der Metrolinie 3, die irgendwann zwischen den Stationen Albert in der Gemeinde Forest/Vorst und Bordet in Evere verkehren soll. Wegen explodierender Kosten und immer neuer technischer Probleme stehen die Anfang 2020 begonnenen Arbeiten seit zwei Jahren still. Die geschäftsführende Regierung hatte im Frühjahr die Brüsseler Nahverkehrsgesellschaft STIB/MIVB beauftragt, die Optionen für das weitere Vorgehen zu untersuchen. Der 65 Seiten umfassende Bericht liegt jetzt vor, die französischsprachige Fernsehanstalt RTBF hatte offenbar Zugang und zitiert ausführlich daraus.
Die STIB hat insgesamt fünf Alternativen unter technischen und finanziellen Aspekten analysiert, von der Fertigstellung der Metro entsprechend der ursprünglichen Planung über verschiedene Zwischenlösungen bis zum sofortigen Abbruch der Arbeiten und der vollständigen Aufgabe des Projekts.
Das Nahverkehrsunternehmen STIB präsentiert vier Optionen
Erkennbar ist, dass die STIB eine Fertigstellung der Metro auch im Abschnitt zwischen Nordbahnhof und Bordet bevorzugt, sei es durch Fortsetzung der Bauarbeiten wie geplant („Variante A“), sei es verzögert durch ein – wahrscheinlich mehrjähriges – Moratorium, sei es auf dem „Umweg“ über eine Zwischenlösung wie eine Pré-Métro. Man ist weiter überzeugt, dass nur mit einer „richtigen“ Metro die steigende Nachfrage aus den nördlichen Stadtteilen bewältigt und eine akzeptable Reisegeschwindigkeit erreicht werden können. Für die von den Gegnern des Projektes bevorzugte Beibehaltung der bestehenden oberirdischen Straßenbahnverbindung brauche man mindestens zehn zusätzliche Fahrzeuge – die dann aber weiter im dichten Autoverkehr feststecken würden. Für die Fertigstellung rechnet man mit Kosten von 3,6 Milliarden Euro. Für eine alternative Finanzierung über eine öffentlich-private Partnerschaft mit einer Laufzeit von 30 Jahren (um die Rückzahlung tragbar für den Regionalhaushalt zu machen) müsse man fast den doppelten Betrag ansetzen.
Das andere „Extrem“ wäre ein sofortiger Stopp des gesamten Projekts, also die Beibehaltung der derzeitigen Pré-Métro zwischen Albert und Nordbahnhof und der Straßenbahnverbindung zwischen Nordbahnhof und Bordet. Die STIB hat ausgerechnet, dass man dann noch rund 224 Millionen Euro für die Schließung der Baustellen, die Wiederherstellung der Straßen und die Entschädigung an die am Bau beteiligten Firmen aufwenden müsste. Zusammen mit den seit der Grundsatzentscheidung im Jahr 2010 bereits für Planung und Bau ausgegebenen 546 Millionen Euro hätte man dann 770 Millionen Euro „verbrannt“. Dabei bleiben die Kosten für alle Baumaßnahmen außer Betracht, die schon seit den 1970er Jahren in die Entwicklung des Métro- und Prémétro-Netzes geflossen sind.
Statt „alles oder nichts“: Schritt für Schritt
Auf die Option, den ganzen Prozess einfach für 10 Jahre auf Eis zu legen, geht das Papier nicht ein. Diesen Vorschlag hatte kürzlich der föderale Innenminster Bernard Quintin ins Gespräch gebracht, der auch für Beliris zuständig ist. Das ist der Finanztopf, mit dem der Föderalstaat Projekte in der Hauptstadt Brüssel unterstützt. Der Minister hatte angesichts der prekären Haushaltslage der Region eine weitere Beteiligung von Beliris an dem Metroausbau in Frage gestellt.
Die STIB hält es für technisch möglich, die neue Linie auf den Abschnitt zwischen Albert und dem Nordbahnhof zu begrenzen und auf die Fortsetzung nach Bordet zu verzichten. Die betrieblichen Abläufe wären aber bei einem solchen Inselbetrieb ohne eigenen Betriebshof (der hinter der Endstation Bordet eingeplant war) äußerst störanfällig. Bei Ausfällen wäre der Verkehr auf der ganzen Linie betroffen, und Ersatz müsste erst umständlich aus einem anderen Depot, etwa Delta, herangeschafft werden.
Stattdessen stellt die STIB eine Art Stufenmodell zur Diskussion („Variante C*“). Die geplante Linie könnte in Etappen realisiert werden, wie dies auch zu Beginn des Metrobetriebs in den 1970er Jahren praktiziert wurde. Nach der Fertigstellung der Verbindung Albert – Nordbahnhof (also vor allem mit der Vollendung des Tunnels unter dem Palais du Midi) könnte die neue Linie zunächst weiter mit Straßenbahnfahrzeugen befahren werden. Die Fortsetzung des Tunnels nach Norden könnte, abhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Region, in mehreren Abschnitten erfolgen und auch zunächst für Tramfahrzeuge. Weiterer Vorteil: Man könnte – anders als bei einem Inselbetrieb mit der Metro – mit der Tram ohne Umsteigen ins Stadtzentrum fahren. Am Ende könnte man dann die ganze Linie auf die „richtige“ Metro umstellen.
Diese Variante ist nach den Berechnungen der STIB am Anfang billiger, und die Finanzierung würde sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Insgesamt wäre sie aber am Ende rund 200 Millionen Euro teurer, als wenn das Projekt von Anfang an als Metro gebaut würde. Die Fertigstellung wird sich in beiden Fällen weiter in die Zukunft verschieben. Nach den Planungen von 2010 sollte die gesamte Metrolinie 3 eigentlich im Jahr 2024 zwischen Albert und Nordbahnhof und 2030 bis Bordet in Betrieb gehen; jetzt schätzt die STIB 2040 für die Variante A und 2046 für die Variante C*.
Was wird aus dem Palais du Midi?
Die amtierende Regierung wird sicher keine Entscheidung zwischen diesen Optionen treffen können – dies wird Aufgabe der neuen Mehrheit sein. Eine wichtige Weichenstellung wird dem Kabinett Vervoort aber wohl noch zufallen, nämlich über die Frage, ob Anfang September die Abbrucharbeiten am Palais du Midi (Zuidpaleis) beginnen können, damit darunter der Metro-Tunnel gegraben werden kann.
Bis heute hat die Regierung nämlich nicht über den vor zwei Jahren gestellten Antrag entschieden, den Palast unter Denkmalschutz zu stellen. Ein Schutzstatus würde das Verfahren zumindest noch einmal weiter verzögern. Wird über den Denkmalschutz nicht entschieden, müsste dem Antrag der STIB stattgegeben werden, ab September mit den Abrissarbeiten am Palast zu beginnen. Es ist unwahrscheinlich, dass die geschäftsführende Regierung nach zwei Jahren plötzlich eine – positive – Entscheidung über den Denkmalschutz trifft. Die Kabinettsitzung am 17. Juli wäre dafür wohl die letzte Möglichkeit.
Wird aber mit den Arbeiten am Palast begonnen, könnte dies erneut ein „point of no return“ sein, der jedenfalls die Option ausschließen würde, das Projekt gänzlich zu stoppen. Die bisherigen Mieter des Palastes haben sich jedenfalls schon von ihrer langjährigen Heimstatt verabschiedet. Ob sie nach der – frühestens 2034 erwarteten – Wiedereröffnung zurückkehren dürfen, ist offen. Aber die Auswirkungen des Metrobaus auf die städtebauliche, wirtschaftliche und soziale Struktur des Viertels sind eine eigene Geschichte.







Es wäre schön, wenn Belgieninfo der Zweisprachigkeit Brüssels gerecht werden und auch niederländische Begrifflichkeiten, Orts- und Straßennamen benutzen würde.