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Kernenergieausstieg mit Hintertürchen

TIHANGE – MEDION DIGITAL CAMERA

Von Michael Stabenow.

Er ist und bleibt ein belgischer Zankapfel: der 2003 beschlossene Ausstieg Belgiens aus der Kernenergie bis 2025. Die „Vivaldi“-Koalition aus Liberalen, Sozialisten und Grünen beider Landesteile sowie den flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) hatte beim Amtsantritt im Herbst 2020 bekräftigt, alle sieben Reaktoren in Doel bei Antwerpen und Tihange an der Maas schließen zu wollen.

Bis Ende 2021 sollte das Ziel im Lichte der Versorgungssicherheit und der Preisentwicklung für Energieprodukte überprüft und bestätigt werden. Ob tatsächlich sämtliche Reaktoren fristgerecht 2025 vom Netz gehen werden, muss sich nun spätestens Mitte März zeigen. Es bleibt noch ein Hintertürchen offen.

Eine Nacht lang haben sich die Koalitionspartner kurz vor Weihnachten um die Ohren geschlagen. Herausgekommen ist ein klassischer „compromis à la belge“, der verschiedene Lesarten ermöglicht. Die offizielle, vom liberalen Premierminister Alexander De Croo sowie der den flämischen Grünen angehörenden Energieministerin Tinne Van der Straeten, auf einer Pressekonferenz erläuterte Version lautet: Eigentlich spricht alles dafür, dass das als „Plan A“ bezeichnete Modell Wirklichkeit wird. Demnach ist auch bei einer Stilllegung aller sieben Reaktoren die Versorgungssicherheit durch die dann unvermeidliche Nutzung neuer Gaskraftwerke gesichert.

Van der Straeten verbreitete noch im Morgengrauen per Twitter die Erfolgsmeldung: „Endlich die Sicherheiten mit dem Energieswitch hin zu 100 Prozent erneuerbaren Energien und zur Klimaneutralität“. Postwendend meldete sich der fast dauertwitternde Parteichef der ebenfalls der „Vivaldi“-Koalition angehörenden französischsprachigen Liberalen (MR), Georges-Louis Bouchez: „Keinerlei Sicherheit. Aus diesem Grund bleibt die Atomkraft auf dem Tisch mit einer Studie des AFCN für den 17. Januar“.

Gemeint war der „Vivaldi“-Auftrag an die belgische Behörde für nukleare Sicherheit (ACFN/FANC), einen Bericht zu den Möglichkeiten eines Weiterbetriebs der Reaktoren „Doel 4“ und „Tihange 3“ zu erstellen. Sie sind die jüngsten unter den belgischen Kernkraftwerken, die in den vergangenen Jahren durch wiederholte Störfälle und etliche Haarrisse in der Reaktorhülle vielerorts in Verruf geraten sind (auch auf der anderen Seite der Grenze).

Der flämische Liberale De Croo versuchte anschließend die Wogen zu glätten. Es gehe darum, bei dem wichtigen Thema der künftigen  Energieversorgung mit einem „Sicherheitsnetz“ zu arbeiten – „für den sehr wenig wahrscheinlichen Fall, dass noch etwas schiefgehen könnte“. Die Chance, dass es so kommen werde, sei „unwahrscheinlich klein“, ergänzte Van der Straeten.

Gerade der MR-Chef Bouchez bemüht sich seit längerem nach Kräften, die Ausstiegspläne zu vereiteln. Er verweist gerne auf Frankreich, wo Kernenergie weiter hoch im Kurs steht.  Bündnispartner sind ausgerechnet die flämischen Nationalisten (N-VA). Ihren Vorsitzenden Bart De Wever verbindet eigentlich eine Intimfeindschaft mit Bouchez. So sehr sie unterschiedliche Vorstellungen der Zukunft Belgiens haben, eine Zukunft mit Kernenergie finden sie prima – für beide Landesteile.

Die flämische Umweltministerin Zuhal Demir verweigerte unlängst die Genehmigung für ein neues Gaskraftwerk in Vilvoorde bei Brüssel. Dort will Engie-Electrabel, der Betreiber der Kernkraftwerke, einen Teil der durch den Atomausstieg auf Belgien zukommenden Stromausfälle kompensieren. Demir begründete ihren abschlägigen Beschluss mit einem überhöhten Ammoniakausstoß – eine Folge der geplanten Verbrennungstechnik, die den Ausstoß anderer Schadstoffe drastisch mindern soll.

Dass von N-VA-Seite beteuert wurde, es gehe in Vilvoorde um die Einhaltung geltender Regeln, wurde vielerorts ungläubig registriert. So mangelt es weiter nicht an flammenden Bekenntnissen flämischer Nationalisten zur Kernenergie. Die „Vivaldi“-Koalition setzt jetzt darauf, dass auch bei einem – erwartbaren – endgültigen Aus für das Projekt in Vilvoorde neue Gaskraftwerke an anderen Standorte für ausreichend Strom sorgen können. Bestärkt wurde sie auf der Pressekonferenz durch Aussagen von Chris Peeters, dem Chef des Netzbetreibers Elia. Dennoch hofft Bouchez, dass letztlich „Plan B“, das Offenhalten von zwei Reaktoren, verwirklicht wird.

Der eigentliche Kompromiss im „Vivaldi“-Lager bestand darin, den Freunden der Kernenergie den vollständigen Ausstieg aus der herkömmlichen Technologie mit über vier Jahre verteilten Fördermitteln von 100 Millionen Euro für Forschungsarbeiten zu den neuartigen „kleinen modularen Reaktoren“ (SMR) schmackhaft zu machen. Die in Frankreich mit Verve, in Ländern wie Deutschland hingegen oft mit Argwohn betrachteten Mini-Reaktoren bestehen bisher nur auf dem Papier. Die Technologie ist zudem durchaus mit Zweifeln hinsichtlich ihrer Kosten, aber auch der Sicherheitsrisiken behaftet.

Vielleicht ist es deshalb der Grünen-Politikerin Van der Straeten leicht gefallen, der Erkundung der Perspektiven der SMR-Technologie zuzustimmen. Die Energieminsterin und der Regierungschef verwiesen darauf, dass Belgien mit hervorragenden Forschungskapazitäten aufwarten könne, nicht nur in der Nukleartechnologie, sondern auch bei der Offshore-Windkraft.

Errichtung des Offshore-Windparks Thornton Bank vor der Küste Belgiens
(c) Foto: Jan Oelker / Repower , 2008

De Croo verstieg sich sogar zu der Feststellung: „Wir verabschieden uns von den alten Haarriss-Reaktoren und richten unseren Blick auf die Kernenergie der Zukunft“. Einen Seitenhieb auf N-VA und MR verkniff sich der Regierungschef nicht. Genüsslich verwies er darauf, dass beide Parteien, als sie 2018 in Brüssel gemeinsam regierten, den Kernenergieausstieg explizit bestätigt hätten.

 

 

 

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