Belgischer Ausschuss zur Aufarbeitung der Kolonialzeit scheitert am Zwist innerhalb der „Vivaldi“-Koalition
Von Michael Stabenow
Ob Zufall oder nicht: An dem Tag, an dem der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte namens seiner Regierung um Verzeihung für die Sklaverei in den einstigen Kolonien des Landes bat, lief zwei Autostunden weiter südlich einiges völlig falsch. Auf der abschließenden Tagung des belgischen Parlamentsausschusses zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit des Landes gingen die Abgeordneten ohne Beschluss auseinander. Der federführend von Wouter De Vriendt erstellte Abschlussbericht mit 128 Empfehlungen war zu Makulatur geworden.
„Absprache mit der Geschichte verpasst“
De Vriendt, Ko-Vorsitzender der Fraktion der Grünen (Groen/Ecolo) in der Abgeordnetenkammer, ließ seiner Enttäuschung über das unrühmliche Ende des Mitte 2020 eingesetzten und von ihm geleiteten Ausschuss freien Lauf. Auf Twitter vermeldete er: „Enttäuscht, Absprache mit der Geschichte verpasst.“ Gescheitert sei die Annahme der Empfehlungen an der Uneinigkeit zu Artikel 69 des Berichtsentwurfes. Darin sollte das Parlament um „Verzeihung“ für die Verfehlungen in den zwischen 1960 und 1962 in die Unabhängigkeit entlassenen einstigen belgischen Kolonien Kongo, Burundi und Ruanda bitten.
Was war geschehen? Gegenüber dem flämischen Sender VRT berichtete De Vriendt, im Ausschuss habe lange eine konstruktive Stimmung geherrscht. Mitte Oktober habe es nach einer Verständigung im Ausschuss ausgesehen. „Aber drei Tage später haben mich zwei Parteien wissen lassen, dass sie die Passage zu den Entschuldigungen nicht länger unterstützen könnten“, sagte De Vriendt. Er gab ferner zu verstehen, dass es sich um die beiden liberalen Parteien (Open VLD und MR) handele, die gemeinsam mit Sozialisten (PS und Vooruit), Grünen (Groen und Ecolo) beider Landesteile sowie den flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) seit 2020 in Brüssel die „Vivaldi“-Koalition bilden.
Kritik an Liberalen und dem Königshaus
Zudem, so De Vriendt, habe er indirekt einen Wink erhalten, „dass aus dem Königshaus eine große Sensibilität hinsichtlich der Entschuldigungen zum Ausdruck gebracht worden ist“. Damit wurde das Scheitern des Ausschusses nicht nur zu einer Angelegenheit der Regierungsmehrheit; es stellte sich auch die Frage nach der Rolle des Palastes. Mitte 2020 hatte das Staatsoberhaupt König Philippe in einem Schreiben an den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi sein „tiefstes Bedauern“ über die belgischen Verfehlungen in den Jahren 1885 bis 1960 bekundet (Das schwere Erbe der belgischen Kolonialzeit – Belgieninfo).
Im damaligen Schreiben des Königs hieß es wörtlich: „Es ist mir ein wichtiges Anliegen, mein tiefstes Bedauern über die Wunden der Vergangenheit zu äußern. Wunden, die gegenwärtig wieder in schmerzlicher Weise durch diskriminierende Taten spürbar werden, die noch zu stark in unserer Gesellschaft gegenwärtig sind.“ Das Schreiben war auch vor dem Hintergrund der in den Vereinigten Staaten entstandenen „Black Lives Matter“-Bewegung wider Rassismus und polizeiliche Übergriffe zu sehen.
„Tiefstes Bedauern“ des Königs, aber keine Entschuldigung
Bei seinem Kongo-Besuch im vergangenen Juni bekräftigte König Philippe sein „tiefstes Bedauern“. Von einer förmlichen Bitte um Entschuldigung war aber nach wie vor nicht die Rede. Dahinter stehe, so wurde gemunkelt, die Befürchtung, ein entsprechendes Eingeständnis könne Forderungen nach Entschädigungen nach sich ziehen.
Just diese Bedenken hatte De Vriendt durch eine Klarstellung in dem Abschlussbericht des Ausschusses zerstreuen wollen. So hatte der Grünen-Politiker eine Formulierung gewählt, die einerseits die Bitte um Verzeihung enthalten, anderseits aber auch klarstellen sollte, dass daraus keine finanziellen Verpflichtungen für den belgischen Staat erwüchsen.
Keine Reparaturzahlungen nach einer Entschuldigung
So sollte das Parlament gegenüber den Völkern Kongos, Burundis und Ruandas um Verzeihung bitten „für die koloniale Beherrschung und Ausbeutung, die Gewalt und Grausamkeiten, die individuellen und kollektiven Verletzungen der Menschenrechte während dieser Zeit, für den Rassismus sowie die Diskriminierungen, die sie begleitet haben“. Das Eingeständnis der Rolle Belgiens sei notwendig. „Allerdings geht sie mit keinerlei rechtlichen Verantwortung einher und kann keine Grundlage für finanzielle Reparationen sein“, heißt es in dem Entwurf für den Abschlussbericht des Ausschusses.
Diese Zusicherungen erwiesen sich für die Liberalen – nach Überzeugung De Vriendts auf Betreiben von Kräften außerhalb des Parlaments – als unzureichend. Auch die flämischen Christlichen Demokraten zeigten sich zögerlich. Dagegen hatten insbesondere die französischsprachigen Sozialisten nicht nur auf einer förmlichen Entschuldigung, sondern auch auf einem Fonds für Reparationszahlungen zugunsten der einstigen Kolonien beharrt.
Harter Schlagabtausch zwischen Bouchez und De Vriendt
Der MR-Vorsitzende Georges-Louis Bouchez regierte pikiert auf die Mutmaßungen, dass sich seine Partei durch das Königshaus habe instrumentalisieren lassen. In der VRT-Sendung „Terzake“ sagte er am Dienstagabend: „Zu keinem Moment wurde unsere Haltung durch den Palast bestimmt. Es gab keine Intervention. De Vriendt beweist, dass er nicht auf den Platz des Vorsitzenden eines Ausschusses gehört.“ Seine Partei habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie gegen eine förmliche Entschuldigung sei; es gehe jetzt darum, den Blick nach vorne zu richten. De Vriendt habe durch seine „Alles oder nichts“-Haltung zu der jetzigen Entwicklung beigetragen. De Vriendt beharrte laut VRT nach den Äußerungen auf seiner Darstellung, dass die Liberalen aktiv am Text mitgearbeitet hätten und wenige Tage später „plötzlich“ ein Veto eingelegt worden sei.
De facto war die Arbeit des Ausschusses am Montagabend beendet, als insbesondere die Vertreter der Liberalen den Sitzungssaal verließen. Hinfällig waren damit nicht nur die vom Ausschussvorsitzenden De Vriendt angeregte Bitte um Verzeihung, sondern – zumindest bis auf weiteres – auch die anderen 127 Empfehlungen zum Umgang mit der Kolonialgeschichte. Dazu zählen Initiativen für ein Wissenschaftszentrum, Forschungsstipendien, die Bekämpfung von Rassismus, Gedenkstätten für die Opfer, für ein Jahr des Nachdenkens über die koloniale Vergangenheit sowie für den Zugang zu Archivbeständen.
Sorge um Zugang zu Archiven
Dieser Punkt könnte, so mutmaßte der VRT-Redakteur Bart Verhulst unter Berufung auf seine Quellen, für Vorbehalte des belgischen Königshaus ebenso eine Rolle gespielt haben wie die vorgeschlagene förmliche Bitte um Verzeihung für die Verfehlungen während der Kolonialzeit. Hintergrund dürfte sein, dass König Leopold II. von 1885 bis 1908 den „Kongo-Freistaat“ als eine Art Privatbesitz betrachten konnte.
Was für De Vriendt bleibt, ist nicht nur die Verbitterung in Brüssel. „Ich denke, dass die Enttäuschung auch bei den betroffenen afrikanischen Ländern groß sein wird“, sagte der Grünen-Politiker der VRT. Von einem „Schlag ins Gesicht vieler“ sprach im selben Sender die belgisch-kongolesische Politikwissenschaftlerin Nadya Nsayi. „Nicht nur für die Menschen, die die Kolonialzeit mitgemacht haben, sondern auch für die Nachkommen und Dutzende von Experten und Zeugen, die im Ausschuss ihre Erkenntnisse und Erfahrungen geteilt haben“, sagte Nsayi.
Was trotz des Scheiterns bleibt
Dass die Ergebnisse der Ausschussarbeit, zu denen ein fast 700 langer Expertenbericht gehört, bei aller Enttäuschung über das unrühmliche Ende des Gremiums, auch positive Seiten haben, glaubt Colette Braeckman. Die Journalistin der Brüsseler Zeitung „Le Soir“ gilt seit Jahrzehnten als eine der besten Kongo-Kennerinnen. In einem Kommentar verwies sie auf die durch die Arbeit des Ausschusses sowie der zu Rate gezogenen rund 150 Sachverständigen und Zeugen gewonnenen Erkenntnisse.
Als Beispiele nannte Braeckman das Schicksal der ihren afrikanischen Müttern entrissenen „Mischlingskinder“ oder die Befunde zu den Gewinnen von Unternehmen der Kolonialherren. Auch mit der Propagandadarstellung, wonach Straßen und Bahnstrecken nicht diesen, sondern den Kongolesen dienten, sei nun aufgeräumt worden. An den Verdiensten des Ausschusses könne das jüngste Manöver der Liberalen nichts ändern. Trotz dieser Nachhutgefechte hätten die Parlamentarier Erfolge bei der Aufklärungsarbeit vorzuweisen. „Sie haben dazu beigetragen, auf Fragen der jungen Generation zu antworten und den Boden für eine neue Beziehung mit Völkern zu bereiten, die lange beherrscht wurden“, schrieb Braeckman.
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