Von Michael Stabenow
Nach Wallonien und der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgiens verfügt nun auch die Region Flandern über eine handlungsfähige Regierung. Neuer Ministerpräsident ist der bisherige Haushalts- und Finanzminister Mattias Diependaele. Er hat das Amt vom bisherigen, ebenfalls der Neu-Flämischen Allianz (N-VA) angehörenden Regierungschef und möglicherweise in die – noch zu bildende – Föderalregierung wechselnden Jan Jambon übernommen. Der flämischen Regionalregierung gehören wie bisher die Christlichen Demokraten (CD&V) an, und die Sozialisten (Vooruit) übernehmen als dritte Koalitionspartnerin die Rolle der auf die Oppositionsbänke verbannten Liberalen (Open VLD).
Nachdem alle Regierungsmitglieder den Eid abgelegt hatten – fünf Vertreter der N-VA und jeweils zwei von Vooruit und CD&V – stellte Diependaele im Parlament das Programm der Koalition für die kommenden knapp fünf Jahre vor. Obwohl es den Sozialisten gelungen ist, eigene Akzente in der Regierungsvereinbarung zu setzen, folgt sie in weiten Teilen der bisherigen Ausrichtung. Vooruit erreichte zum Beispiel Zusagen zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, zur Position des öffentlichen Rundfunksenders VRT, zu Kindertagesstätten oder zu gesünderem – möglicherweise auch kostenlosem – Schulessen.
Insgesamt prägt aber Kontinuität in der Wirtschafts- und Haushaltspolitik das Programm. Das Ziel einer Beschäftigungsquote von 80 Prozent aller Bewohner im erwerbsfähigen Alter soll insbesondere durch eine zielgerichtete Förderung der Industrie, nicht zuletzt im Antwerpener Hafengebiet, erreicht werden. Umweltauflagen für den Autoverkehr oder auch die Auflagen zur besseren Isolierung von Wohngebäuden sollen hingegen gelockert werden. Die sogenannten Dienstleistungschecks, mit denen insbesondere Putzkräfte aus der Schwarzarbeit geholt werden sollen, werden teurer und sollen zudem nicht mehr steuerlich absetzbar sein.
Auffällig ist jedoch, dass Ministerpräsident Diependaele in seiner Regierungserklärung das Streben Flandern nach mehr eigenverantwortlichem Handeln und Autonomie herausstellte. „Wir erhalten mit diesem Team die Chance, der flämischen Nation weiter Gestalt zu verleihen und sie in neue Höhen zu führen“, sagte der 45 Jahre alte Politiker. Er macht zwar schon seit seiner Jugendzeit aus seiner nationalistischen Ausrichtungen keinen Hehl, ist aber zuletzt als Finanz- und Haushaltsminister nicht durch sonderliches Charisma aufgefallen.
Nicht zuletzt unter dem Druck des bei den Wahlen im Juni weiter erstarkten fremdenfeindlichen Vlaams Belang verständigten sich die Koalitionspartner darauf, bestimmte finanzielle Vorteile an Niederländischkenntnisse zu knüpfen. Eltern (vor allem mit Migrationshintergrund), die sich weigern, die Sprache zu erlernen, sollen weniger Schulgeld für ihre Kinder erhalten. Das Anrecht auf Sozialwohnungen soll auch an Niederländischkenntnisse geknüpft werden. Auch ein zuletzt wieder in Wallonien wieder vorgebrachtes, aber bisher sowohl an der Uneinigkeit der belgischen Regionen als auch an den Vorbehalten der EU-Vertragshüter stets gescheitertes Projekt wärmte Diependaele mit den Worten auf: „Ausländische Fahrzeuge müssen bezahlen, wenn sie auf unseren Straßen fahren.“ Insgesamt enthält die über 200 Seiten lange Koalitionsvereinbarung zwar detaillierte Vorhaben, die sich allerdings nicht selten wie Absichtserklärungen lesen.
Vooruit-Parteichef Conner Rousseau, der nach rassistischen Äußerungen im trunkenen Zustand in einer Kneipe seiner Heimatstadt Sint-Niklaas vom Amt zurückgetreten war, es aber inzwischen wieder übernommen hat, sorgte jetzt abermals für Irritationen. Auf einem Parteitreffen zur Billigung der Koalition – unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber dennoch durch die Zeitung „De Standaard“ geschildert– prahlte Rousseau mit seinen Erfolgen bei den Koalitionsverhandlungen. Auf dem Niveau des einstigen Fußball-Nationaltorhüters Thibaut Courtois sei es gelungen, „die hässlichen, hässlichen N-VA-Maßnahmen und ihren sozialen Abbruch zu verhindern“.
Unter Anspielung auf die von der N-VA übernommenen (flämischen) gelben Farben sagte der Vooruit-Vorsitzende ferner: „Aber die Klauen des flämischen Löwen verfärben sich rot, beste Freunde, und kaum gelb.“ Am Montag überraschste Rousseau schließlich mit dem Vorschlag, die flämische Parlamentspräsidentin Liesbeth Homans (N-VA) möge noch bis Dezember im Amt bleiben, damit seine Partei die Nachfolge regeln könne.
Die Vergabe von Spitzenposten ist in Belgien traditionell ein Vorrecht der Parteichefs. Rousseau hat sich für seine Partei mit zwei der zehn Ministerposten begnügt und stattdessen den Zugriff auf das eher repräsentative Amt des Parlamentspräsidenten erhalten. Mit der früheren Parteivorsitzenden Caroline Gennez, bisher Entwicklungshilfeministerin in der föderalen Regierung, und Melissa Depraetere, zuvor Fraktionschefin im Parlament und vorübergehend nach Rousseaus Rücktritt Parteivorsitzende, stellt Vooruit zwei Frauen in der neunköpfigen Regierung (Vlaamse Regering | Vlaanderen.be).
Depraetere übernimmt die Ressorts Wohnen, Energie, Klimaschutz Fremdenverkehr und Jugend, Gennez ist für Sozialpolitik und Kultur zuständig. Die N-VA besetzt neben Diependaele und dem vom Unterrichtsministerium in das Ressort Finanzen und Haushalt wechselnden Ben Weyts drei weitere Regierungsämter: Als politisches Schwergewicht gilt die für das Unterrichtswesen, die Justiz und den Arbeitsmarkt zuständige Zuhal Demir. Für Mobilität, öffentliche Arbeiten und die Häfen wird Annick De Ridder, eine Vertraute des N-VA-Parteichefs und Antwerpener Bürgermeisters Bart De Wever, zuständig. Die Brüsseler N-VA-Politikerin Cieltje Van Achter übernimmt die Ressorts Brüssel und Medien.
Die beiden bisherigen christlich-demokratischen Regierungsmitglieder gehören auch dem neuen Kabinett an. Das zuletzt von den Liberalen verwaltete Innenressort geht an die bisherige Wirtschaftsministerin Hilde Crevits. Landwirtschaftsminister Jo Brouns behält das Agrarressort, bekommt aber erweiterte Zuständigkeiten für die Umweltpolitik. Bemerkenswert ist, das zwei Drittel der neuen flämischen Regierungsmitglieder – sechs von neun – Frauen sind.
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