
Eine spannende, aber wenig kontroverse Debatte in der NRW-Vertretung
Von Reinhard Boest
An diesem Donnerstag ging es in der Landesvertretung von Nordrhein-Westfalen in Brüssel um die ganz große Politik. Die Vertretung hatte zusammen mit dem Brüsseler Büro der Heinrich-Böll-Stiftung zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, mit einem Thema, das in der derzeitigen internationalen Lage aktueller kaum sein kann: Ist die EU ein geopolitisches Schwergewicht oder nur ein Schattenboxer?
Schwergewichte waren jedenfalls die beiden Außenpolitiker auf dem Podium – beide übrigens aus Niedersachsen: David McAllister, ehemaliger CDU-Ministerpräsident und jetzt seit mehreren Jahren Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des Europäischen Parlaments, und Jürgen Trittin, bis vor wenigen Wochen Mitglied des Deutschen Bundestages und früher Bundesumweltminister und Grünen-Vorsitzender.
Den Veranstaltern war es zudem gelungen, die Vorsitzende des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees der EU (PSK) und stellvertretende Politische Direktorin des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EEAS), die Niederländerin Delphine Pronk, für die Debatte zu gewinnen. Auch die vierte Teilnehmerin des Podiums ist in Brüssel keine Unbekannte: Almut Möller, frühere Europa-Staatsrätin in Hamburg, ist heute Direktorin beim Think Tank European Policy Center (EPC). Die Diskussionsleitung hatte die Journalistin Silke Wettach übernommen.
In seiner launigen Begrüßung ging Rainer Steffens, der Leiter der NRW-Vertretung, auf seine Herkunft aus dem „nassen Dreieck“ (zwischen Elbe, Weser und Nordsee) ein, die er mit David McAllister gemein habe. Dass Jürgen Trittin gerade auf Lesetour sei, um seine neues Buch zu präsentieren, sei eine glückliche Fügung.
Roderick Kefferpütz, Leiter des Brüsseler Büros der Böll-Stiftung, umriss das geopolitische Szenario, in dem die EU ihre Rolle finden müsse: hier vor die Bedrohung durch Russland und dort die – vorsichtig ausgedrückt – Verunsicherung im transatlantischen Verhältnis nach Beginn der zweiten Amtszeit des Präsidenten Donald Trump. Die EU halte viele Karten in der Hand, sie müsse sie aber auch ausspielen.
In der Podiumsdiskussion ging es um zwei Themen: Sicherheit und Wirtschaft. Alle Teilnehmer waren sich einig, dass die EU in der Sicherheit – im weitesten Sinne, also nicht nur unter dem Blickwinkel der militärischen Verteidigung – noch einen weiten Weg vor sich habe. In der Wirtschaft, vor allem der Handelspolitik, sei sie aber ein „Global Player”. Daraus ergibt sich eigentlich schon die Antwort auf die Eingangsfrage.
Einig waren sich alle über das Ausmaß der Bedrohung durch Russland und die Notwendigkeit, die Verteidigungsanstrengungen massiv zu erhöhen. Dass man dabei weniger auf die USA zählen könne, sei nicht erst seit dem Amtsantritt von Donald Trump klar geworden. Schon Barack Obama und Joe Biden hätten das Ungleichgewicht bei den Lasten thematisiert. In der Vergangenheit hätten die Europäer vom Schutzschirm der USA profitiert, diese wiederum von den Rüstungskäufen der Europäer in Nordamerika. Die entscheidende Veränderung sei jetzt, so der Tenor der Diskussion, dass die Trump-Administration die EU verachte und versuche, die Mitgliedstaaten gegeneinander auszuspielen, auch indem sie EU-Gegner in den Mitgliedstaaten unterstütze wie Viktor Orban oder die AfD.
McAllister bekannte sich trotzdem zu seiner transatlantischen Überzeugung; die USA seien mehr als die aktuelle Regierung, es gebe 50 Bundesstaaten, eine starke Zivilgesellschaft und unabhängige Universitäten. Die Amerikaner blieben ein unerlässlicher Partner. Darum sollten auch die Zollverhandlungen zwischen Brüssel und Washington fortgesetzt werden.
Trittin sieht dagegen jenseits des Atlantiks einen autoritären Oligarchismus entstehen. Angesichts des außenpolitischen Denkens in „Großräumen“, in denen die Souveränität einzelner Staaten relativiert werde, müsse man sich fragen, ob die EU und die USA noch zum selben Lager gehörten.
Möller sieht Trump besser vorbereitet als in seiner ersten Amtszeit. Sein Ziel sei es, maximale Unruhe zu verbreiten. Am Ende werde seine Methode aber nicht aufgehen, da sie zu Lasten der eigenen Bevölkerung gehen werde, so die EPC-Direktorin.
Pronk stellte fest, dass die EU seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine endlich den Ernst der Lage verstanden habe und konkrete Fortschritte hin zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik verzeichne. Allerdings sei der Weg noch weit und nicht nur wegen der Strukturen und Verfahren immer mit Unsicherheit verbunden. Immerhin sei bezeichnend, wie schnell der NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands vollzogen worden sei und dass Dänemark jetzt im PSK mitmache. Positiv sei auch, dass man mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und NATO-Generalsekretär Mark Rutte auf erfahrene Politiker und auf die Zusammenarbeit mit der britischen Regierung zählen könne, erläuterte die stellvertretende Politische Direktorin des EEAS..
Natürlich spielte auch die Diskussion über das Ausmaß der künftigen Verteidigungsausgaben eine Rolle. Trittin erinnerte nicht ohne eine gewisse Genugtuung daran, dass sein Parteifreund Robert Habeck als Bundeswirtschaftsminister vor der Bundestagswahl eine Prozentzahl – 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – genannt habe, die jetzt anscheinend auch Position des NATO-Generalsekretärs sei. Viel Zustimmung habe Habeck seinerzeit nicht bekommen. Aber es sei gut, dass mit der neuen Bundesregierung Berlin jetzt wieder entscheidungsfähig sei.
Die Bedeutung einer handlungsfähigen deutschen Regierung für die anstehenden Entscheidungen teilten auch die anderen Diskussionsteilnehmer, zumal aus einigen Mitgliedstaaten schon Skepsis gegen (noch) höhere Verteidigungsausgaben artikuliert wird, nicht zuletzt aus Belgien. Hier hat man Mühe, schon das bisherige Ziel von 2 Prozent des BIP zu erreichen. Das Land steht angesichts der Haushaltsprobleme vor politisch kaum zu bewältigenden Verteilungskämpfen. Die Finanzierung von Verteidigungsausgaben über neue Schulden wie in Deutschland dürfte auch für viele andere Mitgliedstaaten unmöglich sein. Die Ankündigung des neuen Bundeskanzlers, die Bundeswehr zur größten konventionellen Armee in Europa zu machen, wird unter diesen Umständen nicht bei allen Nachbarn mit Begeisterung aufgenommen. Das Thema wurde aber an diesem Abend nicht weiter vertieft.
McAllister unterstrich, dass es nicht nur um den Umfang der Mittel gehe, sondern viel mehr um einen sinnvollen und in der EU koordinierten Einsatz für die gemeinsame Entwicklung und Beschaffung. Sonst profitiere davon am Ende nur die Rüstungsindustrie.
Auch das Verhältnis zu anderen Staaten und Staatengruppen in der Welt spielte in der Diskussionsrunde eine Rolle. Möller erinnerte daran, dass die EU nicht selbstverständlich davon ausgehen dürfe, in der Welt geschätzt zu werden. Man müsse sich vielmehr um deren Anerkennung bemühen. Dabei sollte sich die EU aber, wie McAllister betonte, nicht als „Lehrmeister“ aufführen.
Auch wenn die Podiumsteilnehmer übereinstimmend der EU wirtschaftlich eine starke Position in der Welt zubilligten, warf Trittin die Frage auf, ob die EU etwa in der Handelspolitik wirklich „liefern“ könne. Er erinnerte an die noch immer ausstehende Ratifizierung des Handelsabkommens mit Kanada (CETA) – also mit einem Land, das der EU in jeder Hinsicht näher stehe als kaum ein anderes Land in der Welt. Auch McAllister bedauerte, dass in der Handelspolitik das frühere Momentum verloren gegangen sei. Mit zahlreichen Ländern stünden Verhandlungen an. Bisherige Erfahrungen zeigten, dass es besser sei, reine Handelsabkommen abzuschließen – für die EU allein zuständig ist – und sie nicht mit anderen, „sachfremden“ Themen zu belasten. Ob man – wie vom CDU-Politiker angeregt – wegen der anhaltenden Bauernproteste weniger Gewicht auf Agrarthemen legen sollte, scheint dagegen fraglich, da dieser Bereich für die meisten Handelspartner eine wesentliche Rolle spielt.
Wo sollte die EU zum Ende der Amtszeit Trumps stehen, fragte zum Abschluss des Gesprächs die Moderatorin Silke Wettach. In der Sicherheitspolitik solle sie mehr Subjekt sein, war die einhellige Antwort. Dabei müsse es um Sicherheit im weitesten Sinne gehen, nicht nur um die militärischen Aspekte. Und die Ressourcen müssten so gut wie möglich gebündelt werden. Klar war für alle aber, dass es nicht nur um die nächsten drei bis vier Jahre gehe, sondern um eine langfristige Daueraufgabe, bei der es auch immer wieder Rückschläge geben könne. Als wirtschaftliche Macht könne die EU durch eine Sicherung des Binnenmarkts, Entbürokratisierung und neue Handelsabkommen ihre Rolle weiter stärken.
McAllister forderte die MAGA-Fans unter den amerikanischen Republikanern auf, einmal die Rede nachzulesen, die ihr großes Vorbild Ronald Reagan vor 40 Jahren, am 8. Mai 1985, im Europäischen Parlament gehalten habe: ein Appell für die europäische Einigung und die Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa.
Etwas kontrovers wurde es erst in der Fragerunde, als der türkische EU-Botschafter aus dem Publikum sich darüber beklagte, dass die Rolle seines Landes nicht gewürdigt werde und man Europa nur auf die EU verenge. In seiner Reaktion darauf betonte McAllister, dass die Türkei ein großes Land sei, mit einer wichtigen Rolle in der NATO, und dasssie der EU auch in der Migrationsfrage geholfen habe. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan mache es aber der EU nicht leicht, angesichts der Inhaftierung von Oppositionellen und der Bedrohung von Meinungsfreiheit und Rechtsstaat vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Nicht ohne Grund seien die Beitrittsgespräche seit Jahren zum Stillstand gekommen, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments.
Der anschließende Empfang gab nicht nur Gelegenheit zu einem angeregten Austausch über dieses brandaktuelle Thema, sondern auch, sich von Jürgen Trittin am Büchertisch der Gutenberg-Buchhandlung seine Autobiographie „Alles muss anders bleiben“ signieren zu lassen.
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