
Eine bewegende Aufführung der Brüsseler „Playback“-Theatergruppe im Seniorenkreise der katholischen St.Paulusgemeinde
Von Michael Stabenow
Es ist ein Donnerstagnachmittag im ersten Stock des Gemeindezentrums der deutschsprachigen katholischen St.Paulus-Gemeinde in Brüssel. Wie üblich, einmal im Monat, kommen Seniorinnen und Senioren dorthin, um sich bei einer Tasse Kaffee (oder Tee) und einem oder auch zwei Stückchen Kuchen untereinander auszutauschen – und nicht nur das. Unlängst hat Thomas Gack, ein langjähriger Korrespondent der Stuttgarter Zeitung, die Bühne genutzt, um in seine – keineswegs heimliche – Leidenschaft einzuführen: Bücher und ihre magische Ausstrahlung.
An diesem Donnerstag wird den über 30 erschienenen Gästen ein besonderer Leckerbissen serviert: eine Aufführung der ViceVersa-Theatergruppe (Zuhause | ViceVersa). Das 2003 in Brüssel entstandene, meist in deutscher Sprache auftretende Ensemble hat sich dem in den siebziger Jahren in den Vereinigten Staaten entstandenen „Playback Theater“ verschrieben. Es ist kein klassisches Improvisierungstheater; vielmehr wird auf spontante Interaktion zwischen den Schauspielerinnen sowie Schauspielern und dem Publikum gesetzt (Schnuppern in die Welt des Impro-Playback-Theaters – Belgieninfo).
Die rund einstündige ViceVersa-Aufführung im Gemeindezentrum verdeutlicht, worum es bei dieser Aufführung gehen soll. Ziel ist es offenkundig, die Zuschauer aus der Reserve zu locken und eine Bindung zwischen Darstellern und Publikum, aber auch unter den Zuschauerinnen und Zuschauern zu erreichen. Spontan erzählte Begebenheiten aus ihrem Leben liefern den Stoff für die allesamt dezent in schwarz gekleideten Mitglieder des Ensembles. Ob es um Erlebnisse aus dem Alltag, Kuriositäten oder auch Peinliches geht – die vier Frauen und René, der einzige Mann auf der Bühne, lassen sich dadurch inspirieren.
Gemeinsam improvisieren Sabine, Susanna und Renaud abwechselnd in kurzen, prägnanten und oft witzigen Sätzen, garniert durch spontane Bewegungen alleine, zu zweit der zu dritt – gelegentlich auf der rechten Seite von Kollegin Louisa musikalisch ruhig begleitet. Links auf der Bühne hat Claudia den Part der Moderatorin übernommen. Sie bittet Zuschauer einzeln auf die Bühne, die somit nolens volens ebenfalls zu Darstellern werden. Freimütig und unbeschwert, von Claudia aufgemuntert, sollen sie ein für sie persönlich wichtiges Erlebnis schildern.
Die jeder Wortmeldung aus dem Publikum folgenden, jeweils nur einige Minuten dauernden Darbietungen der Schauspieler werden immer wieder mit Schmunzeln, Lachen und abschließend mit Beifall quittiert. Am Ende scheinen alle, ob auf der Bühne oder im Publikum, das Gefühl zu haben, bei den Erlebnissen selbst dabei gewesen zu sein – gewürzt durch die künstlerische „Aufarbeitung“ auf der Bühne. Erzählung und schauspielerische Darbietung scheinen miteinander zu verschmelzen.
Anfangs muss Claudia noch dazu ermuntern, die Schüchternheit im Publikum zu überwinden. „Wir sind nicht in der Schule“, sagt sie lächelnd – und schon ist das Eis gebrochen. Es geht um Erlebnisse mit undichten Dächern, eine Irrfahrt zurück von einer Botschaft eines westafrikanischen Landes in den Brüsseler Osten. Mit beiden Armen ins vermeintliche Nichts lenkend stellt Sabine die Fahrt nach. „Die Wege sind schwierig“, erklingt es von der Bühne. Niemand wagt zu widersprechen – ein Lächeln huscht über manche Miene im Zuschauerraum.
Marie-Therese, seit 1965 in Brüssel lebend und viele Jahr im europäischen Ministerrat beschäftigt, erzählt die groteske Geschichte von wütenden Bauern, die es 1971 geschafft haben, eine lebendige Kuh in das Sitzungsgebäude der Agrarminister zu bringen. Innerlich sicherlich begeistert, dennoch hochkonzentriert wird mehr als ein halbes Jahrhundert später die Szene wieder zum Leben erweckt – nur dieses Mal im katholischen Gemeindezentrum.
Eine jetzt menschgewordene, schwarz gekleidete Kuh ruft auf der Bühne: „Wo ist das Gras? Was sollen die Menschen hier?“ Und fast kommt es einem vor, als röche man die Kuhfladen, in die einer der Schauspieler gerade mitten hinein getreten zu sein scheint. „Das ist eine wahre Geschichte. Ich war dabei“, hat Marie-Therese zuvor gesagt. Jetzt zweifelt erst recht niemand mehr an ihren Worten.
Wenig später sieht man als Zuschauer die Szene vor sich, von der die seit 1988 in Belgien lebende Gitti berichtet. Nachbarn hätten sie und ihren Mann zu einem leckeren Lasagne-Essen nach Hause eingeladen. Die Sprachbarriere – die Gastgeber sprachen Französisch, Gitti damals noch nicht – war hoch. Ihr Kompliment für das Essen war bei Abschied – unbeabsichtigt – reichlich deplatziert: „dégueulasse!“
Obwohl damals aus „ekelhaft“ mit Hilfe der Umstehenden umgehend „délicieux“ geworden ist – der Kreis der Mitwisser dieses verbalen Fehltritts ist im Jahr 2025 um ein Stück gewachsen. Und auch den Darstellern bereitet es sichtlich wenig Mühe, sich auf der Bühne gedanklich um Jahrzehnte zurück zu versetzen. Angeregt und eng beieinander stehend unterhalten sie sich zum Abschluss eines offenbar harmonisch verlaufenen Abends. Dann fällt der Begriff „abscheulich“ – doch kurz darauf löst sich alles, auf der Bühne und im Publikum, in Wohlgefallen auf.
Rührend nimmt sich die Geschichte aus, in der Ursel, seit 1972 in Brüssel, ihren Erwerb von zwei Sträußen auf einem Blumenmarkt schildert. Leider habe sie nicht genug Geld dabei gehabt. Die Händlerin habe ihr jedoch gesagt, sie solle ruhig jetzt die zwei Sträuße mitnehmen und das Geld doch bei anderer Gelegenheit vorbeibringen. Gesagt, getan! Und dann verwandelt sich Ursel – irgendwie jetzt selbst zu einem Teil des ViceVersa-Ensemble geworden – unvermittelt in eine typische Brüsseler Blumenhändlerin und sagt: „Vous voyez, Mademoiselleke, je savais que vous êtes honnête!“
Diese Aussage veranlasst Schauspielerin Sabine bei der Nachstellung der Szene zu dem nicht nur auf Ursel zutreffenden Kommentar: „Es gibt Menschen, für die ist Geld nicht alles.“ Apropos Geld: als Schauspieler Renaud improvisiert, wie er der Blumenhändlerin den geschuldeten Betrag überreicht, sagt er – in den siebziger Jahren war vom Euro noch nicht die Rede: „Da sind die 300 Francs.“
Schließlich meldet sich im Publikum noch jemand zu Wort. Es ist der mittlerweile 90 Jahre alte Egon Heinrich, den Lesern von Belgieninfo seit Jahren nicht nur als Musikkritiker vertraut, zum Beispiel hier mit einem Stück zum Pianisten Alfred Brendel (Ein Gigant nimmt Abschied – Belgieninfo). Nun setzt er sich neben Moderatorin Claudia. Er nimmt Publikum und Akteur zu einem Ausflug von Mitgliedern der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde zu einer Bootsfahrt in Antwerpen an einem verregneten Tag im vergangenen Frühling mit.
Dort passiert ihm das Missgeschick. Die Mütze wird Egon vom Kopf geweht und landet scheinbar in der Schelde. Zeit zum Nachtrauern bleibt ihm nicht. Denn das gute Stück ist auf einer Stahlstrebe unterhalb einer Brücke gelandet und wird, reichlich akrobatisch, von Pfarrerin Katja Baumann, von der Reise zur Scheldemündung sowie in die Nordsee bewahrt und dem rechtmäßigen und stolzen Besitzer zurückgegeben.
Zur Einstimmung hat Moderatorin Claudia zu Beginn der Aufführung gefragt:„Was haben wir hier besonderes erlebt? Tiefschläge, Höhepunkte? Wie geht es Euch? Aus dem Publikum sind Antworten gekommen wie: „Prima, sehr gut, bestens“. Es ist eine Aussage, die nach der Aufführung an der Kaffeetafel in der St.Paulus-Gemeinde, an der Schauspieler und Zuschauer gemeinsam Platz genommen haben, ihre Bestätigung findet.
„Das war eine wunderbare himmlische Rettung“, hat Egon zuvor schmunzelnd erläutert, ehe die Szene unter Lachen und Beifall auf der Bühne fantasievoll „aufgearbeitet“ worden ist. Anschließend stellt er nochmals klar: „Das war keine erfundene Geschichte!“ Abgenommen haben es Egon zweifellos alle im Raum. Und Moderatorin Claudia gibt eine Erkenntnis weiter, der ebenfalls niemand widersprechen möchte und die sicherlich einige mit auf den Weg nach Hause nehmen werden: „Das Leben ist die interessanteste Geschichte!“
Praktische Informationen:
Die ViceVersa-Theatergruppe ist erreichbar unter: https://www.viceversa-theater.com/kontaktieren
Die derzeit neun Mitglieder der Gruppe treffen sich im Regelfall dreimal im Monat an einem Donnerstagabend und stehen für Aufführungen zu verschiedenen Anlässen bereit – ob Geburtstags-, Familien- oder Jubiläumsfeiern oder auch als Begleitprogramm zu Kongressen und anderen Veranstaltungen.
Der Seniorenkreis der St.Paulusgemeinde trifft sich im Regelfall einmal im Monat im katholischen Gemeindezentrum, Avenue de Tervuren 221, 1150 Brüssel (Sankt Paulus – St. Paulus, E-Mail: senioren@sankt-paulus.eu).
Die deutschsprachige evangelische Emmaus-Gemeinde, Avenue Salomé 7, 1150 Brüssel, bietet einmal im Monat ein „Café am Dienstag“ für Seniorinnen und Senioren an (Deutschsprachige Evangelische Gemeinde in Brüssel sowie E-Mail: info@degb.be).







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