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Eine eindruckvolle Ausstellung im Brüsseler Eisenbahnmuseum “Trainworld”
Von Reinhard Boest
“Trainworld”, das Eisenbahnmuseum am Brüsseler Bahnhof Schaerbeek, ist immer einen Besuch wert. Die faszinierende Sammlung von historischen Fahrzeugen, Eisenbahnmaterial und Dokumenten führt die Besucherinnen und Besucher durch die Geschichte der Eisenbahn in Belgien, von den Anfängen 1835 bis heute.
Einer besonders schwierigen Periode dieser Geschichte widmet sich jetzt eine Ausstellung: “Die Belgischen Eisenbahnen unter der Besatzung 1940-1945 – Zwischen Kollaboration und Widerstand”. Eröffnet wurde sie am 25. September 2025, genau 10 Jahre nach der Einweihung des Museums. Sie ist noch bis zum 28. Juni 2026 zu sehen und unbedingt zu empfehlen.
Die Vorgeschichte
Die Ausstellung hat eine lange Vorgeschichte. Die deutsche Besatzung in Belgien – von der Kapitulation am 24. Mai 1940 bis zur vollständigen Befreiung Anfang 1945 – und vor allem die Rolle der belgischen Behörden in dieser Zeit ist nach dem Ende des Krieges lange nicht wirklich, und das heißt kritisch aufgearbeitet worden. Man beließ es im Wesentlichen bei der Entlassung oder Bestrafung offensichtlicher Kollaborateure und ging ansonsten – wie in vielen Ländern – zur Tagesordnung über.
Immerhin galt es, das im Krieg schwer zerstörte Land wieder aufzubauen und den Menschen möglichst rasch wieder ein “normales” Leben zu ermöglichen. Erst im Jahr 2004 gab die belgische Regierung eine Studie in Auftrag, um die Verfolgung, Entrechtung und Deportation der jüdischen Bevölkerung in Belgien zu untersuchen. Die 1000 Seiten umfassende Studie wurde 2007 unter dem Titel “Das unterwürfige Belgien” (Gewillig België, La Belgique docile) vorgelegt. In ihrer Folge entschuldigten sich die früheren Premierminister Guy Verhofstadt im Mai 2007 und Elio di Rupo im September 2012 und erkannten die Verantwortlichkeit des belgischen Staates an, ebenso der belgische Senat im Januar 2013.
Die Studie geht auch auf die Verwicklung der belgischen Eisenbahngesellschaft (SNCB/NMBS) in die Deportationen ein, was bei der Leitung dazu führte, sich “der negativen Aspekte ihrer Rolle während des Krieges bewusst zu werden”. Im Jahr 20121 erkannte Jannie Haek, damaliger Generaldirektor der SNCB, die Verantwortung an, die die Bahn bei den Deportationen der Juden, aber auch von politischen Gefangenen, Zwangsarbeitern und Sinti und Roma gespielt hat. Die Bahn drückte ihr Bedauern aus, eine förmliche Entschuldigung gab es allerdings nicht.
2022 gaben der Senat und die Föderalregierung eine weitere Studie in Auftrag, die sich explizit mit der Rolle der SNCB/NMBS befasst (Le rail belge sous l’occupation, erschienen als Buch 2024). Auf dieser Grundlage wurde eine “Gruppe der Weisen” unter Vorsitz von Françoise Tulkens eingesetzt, früher Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und Präsidentin der König-Baudouin-Stiftung. Sie legte im Januar 2025 eine Liste von 29 Empfehlungen auf drei Achsen vor: Verbreitung der Erkenntnisse der Studien (“Wahrheit”), Übermittlung der historischen Lehren aus dieser Zeit an ein breites Publikum, vor allem die Jugend, und schließlich Maßnahmen zur Wiedergutmachung durch die SNCB/NMBS (kein individueller Schadenersatz, was vom “Centre Communautaire Laïc Juif” kritisiert wurde).
Die jetzt gezeigte Ausstellung in der “Trainworld” setzt die erste dieser Empfehlungen um. Kurator ist der Historiker Nico Wouters, der an beiden Studien mitgearbeitet hat.
Kontext der Ausstellung
Die Ausstellung soll die komplexe Kriegsgeschichte der NMBS/SNCB und die Widersprüche zwischen Kollaboration und Widerstand vermitteln: “Wie weit kann man gehen, wenn man mit einer Diktatur zusammenarbeitet, um dem Gemeinwohl zu dienen? Wann und in welcher Form sollte man Widerstand leisten?” Die SNCB/NMBS war damals das größte Unternehmen und der wichtigste öffentliche Dienstleister im Land. Die Versorgung der Industrie mit Rohstoffen und auch die der Bevölkerung mit Lebensmitteln waren vollkommen von der Bahn abhängig.
Eine gewisse Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht erschien daher unausweichlich. Diese Auffassung vertrat jedenfalls die Leitung der Bahn unter ihrem seit 1933 amtierenden Generaldirektor Narcisse Rulot. Sie entsprach aber auch der Praxis der belgischen Behörden, soweit deren Mitglieder nicht vor den Deutschen geflohen waren. Grundlage war ein aus dem Jahr 1935 stammendes Gesetz über die “Pflichten der Beamten in Kriegszeiten”, das die meisten belgischen Beamten und Bediensteten verpflichtete, ihre Aufgaben im Falle einer feindlichen Invasion im Interesse der Bevölkerung und in Übereinstimmung mit der Haager Konvention weiterhin auszuüben.
Mit dieser “Politik des geringsten Übels” glaubte man die nationalen belgischen Interessen am ehesten wahren zu können. Die Kehrseite war, dass man damit der Besatzungsmacht Dienstleistungen erbrachte, die eben nicht nur in Militärtransporten bestanden, sondern auch die Deportationen unterstützten.
Ein Gang durch die Ausstellung
Die Ausstellung wird nicht in getrennten Räumlichkeiten gezeigt, sondern verteilt sich – in chronologischer Reihenfolge – über die gesamte ständige Sammlung. Präsentiert werden vor allem Wandtafeln mit historischen Fotos und erläuternden Texten, aber auch Filme und Video-Installationen. Besonders auffällig ist ein auf künstlicher Intelligenz basierender Avatar (“talking head”) eines deutschen Eisenbahnoffiziers, der sich – auf Deutsch – kritisch über die Zusammenarbeit mit den belgischen Eisenbahners auslässt. Das einzige “körperliche” Ausstellungsstück ist ein – zur ständigen Sammlung gehörender – Güterwagen des Typs, wie er zuletzt für die Deportationen genutzt wurde. Ein gleicher Wagen steht seit 2012 als Denkmal auch in der Dossin-Kaserne in Mechelen, die von Juli 1942 bis September 1944 der SS als Sammellager für Juden sowie Sinti und Roma diente, die von hier mit “Sonderzügen” in die Vernichtungslager gebracht wurden. 
Kontrolle der SNCB/NMBS durch die Besatzungsmacht
Der Rundgang beginnt in der ehemaligen Schalterhalle des historischen Bahnhofsgebäudes mit einer Schilderung der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung im Deutschen Reich. Der Bogen spannt sich vom Ende des Ersten Weltkriegs über die Weimarer Republik und den Aufstieg der Nationalsozialisten bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem Überfall auf die Benelux-Staaten und Frankreich.
Nach einem Gang über das Freigelände, entlang der Gleise des Bahnhofs, geht es im Neubau weiter. Geschildert werden zunächst die Auswirkungen des Einmarsches auf die belgische Eisenbahn. Um die deutschen Truppen aufzuhalten, wurden die wichtigsten Brücken gesprengt oder beschädigt, etwa in Lüttich die Brücke über die Maas. 227 Eisenbahner kamen ums Leben, Tausende flohen. Nach der Kapitulation übernahmen die Wehrmacht und die Deutsche Reichsbahn mit der Gründung einer “Wehrmachts-Verkehrsdirektion” (WVD) die vollständige Kontrolle über das Netz und auch weitgehend über den Betrieb. Erst mit dem Abzug zahlreicher deutscher Eisenbahner, die nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 im Osten benötigt wurden, erlangten die Belgier nach und nach wieder mehr Kontrolle.
Schon gut drei Wochen nach der Gründung des WVD wies Generaldirektor Rulot das Personal der SNCB/NMBS an, wieder an die Arbeit zu gehen. Mitte August 1940 wurde der Personenverkehr wieder aufgenommen und bis kurz vor Kriegsende aufrecht erhalten. Ab 1942 verstärkten sich die Spannungen mit den Besatzern, und Rulot leistete Widerstand gegen die Abordnung von Bahnmitarbeitern zum Arbeitseinsatz in Deutschland – also zur Zwangsarbeit. Anfang 1944 wurde Rulot von den Deutschen verhaftet. Nach dem Krieg wurde er der Kollaboration beschuldigt, der Vorwurf wurde aber dann nicht weiter verfolgt, und im Februar 1948 wurde er offiziell als Widerstandskämpfer anerkannt.
Deportationen
Besonders bewegend ist der Teil der Ausstellung, der sich mit den Deportationen befasst. Die Verschleppung der Juden in die Vernichtungslager steht dabei im Vordergrund. Schon im Oktober 1940 begann die Erfassung. anschließend wurde die jüdische Bevölkerung zunächst ausgegrenzt, dann beraubt und schließlich zusammengetrieben und deportiert. Vor dem Krieg lebten ungefähr 70.000 Juden in Belgien, von denen die meisten Flüchtlinge aus anderen europäischen Ländern waren. Die deutsche Sicherheitspolizei registrierte Ende 1940 noch 57.000, von denen 25.490 deportiert wurden.
Die Bahn registrierte die “Sonderzüge” genau, denn die Deutschen zahlten dafür. Zwischen dem 4. August 1942 und dem 31. Juli 1944 gab es insgesamt 25 Transporte, außerdem am 15. Januar 1944 einen “Zigeunertransport”, mit dem 352 Sinti und Roma nach Auschwitz gebracht wurden. Die ersten 19 Züge bestanden aus “normalen” Personenwagen; ab dem zwanzigsten Transport wurden Güterwagen eingesetzt, die verschlossen werden konnten, um eine Flucht zu verhindern.
Insgesamt transportierte die belgische Bahn zwischen 1941 und 1944 auch 189.542 belgische Zwangsarbeiter; 16.081 politische Häftlinge wurden in deutsche Gefängnisse und Konzentrationslager gebracht.
Die Ausstellung konfrontiert hier die Besucher mit mehreren persönlichen “gebrochenen Schicksalen”. Dazu gehört etwa der aus Osnabrück stammende Maler Felix Nussbaum, der 1935 vor den Nazis nach Belgien floh. Sein Versteck im Brüsseler Stadtteil Etterbeek wurde verraten, und er wurde mit seiner Frau Felka Platek, ebenfalls Malerin, mit dem letzten Transport am 31. Juli 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet, kaum einen Monat vor der Befreiung Brüssels.
Widerstand und Sabotage
In den Reihen der Bahnmitarbeiter gab es einige Widerstandsgruppen, oft aus den Sozialdiensten, die Generaldirektor Rubot 1940 einführte, um Gewerkschaften überflüssig zu machen (die aber ohnehin verboten waren). Der Widerstand, jetzt auch aus der Direktion, nahm nach der Einführung der Zwangsarbeit zu. Er bestand vor allem darin, Sand ins Getriebe der deutschen Militärtransporte zu streuen, etwa durch Verspätungen, falsche Signale, Verzögerung von Reparaturen, Fehlzeiten oder Arbeitszeitbetrug. Ab 1942 wurden zunehmend Informationen an die Allierten über Bombardierungsziele gegeben: etwa zu Gleisanlagen, Werkstätten und Brücken. Eine eindrucksvolle Karte zeigt die umfangreichen Gleisanlagen in Schaerbeek mit zahllosen Einschlägen. Sabotageakte gab es erst in der Schlussphase des Krieges, als sich die deutsche Niederlage abzeichnete. Vorher wurden Sabotageakte, selbst kleinere Widerstandsaktionen, von Rubot strikt abgelehnt, da sie auch den Bahnbetrieb für die Belgier beeinträchtigt hätten.
Widerstands- oder Sabotageakte gegen die Deportationszüge, die die Direktion anscheinend als Teil der “normalen” Militärzüge ansah, gab es mit einer Ausnahme nicht: der 20. Deportationszug wurde am 19. April 1943 bei Haacht von drei Widerstandskämpfern angehalten; insgesamt 238 Personen konnten fliehen, von denen aber nur etwa 120 überlebten. Am vergangenen Montag war Gelegenheit, an dieses Ereignis in Anwesenheit zweier Überlebender erneut zu erinnern (siehe https://belgieninfo.net/eine-veranstaltung-die-unter-die-haut-ging/).
Der einzige bekannte Fall, in dem sich ein Lokomotivführer weigerte, einen Deportationszug zu fahren, trug sich am 31. Oktober 1942 in Frankreich zu. Léon Bronchart wurde dafür von den Deutschen verhaftet und in Buchenwald und Mittelbau-Dora interniert. Als einer von nur zwei französischen Überlebenden des Lagers kehrte er Ende April 1945 nach Hause zurück.
Nach der Befreiung pflegte die Leitung der NMBS/SNCB das Image eines Unternehmens, das sich kollektiv am Widerstand beteiligt hatte. Aber stimmt das?
Wie groß war die Zahl der Kollaborateure, wie viele leisteten Widerstand? Am Ende der Ausstellung sieht man ein Diagramm: danach waren von den knapp 98.000 Menschen, die gegen Ende des Krieges für die Bahn arbeiteten, nur 6.800 dem Widerstand zuzurechnen (6,9 Prozent). 2.790 wurden wegen “unpatriotischen Verhaltens” bestraft oder gar entlassen (2,9 Prozent). 90.000 “machten ihre Arbeit”. Ob aus Angst um ihren Arbeitsplatz, Angst vor den Besatzer (oder der eigenen Direktion), wer weiß das schon. Gerade in der Schlussphase des Krieges mit immer mehr Angriffen der Deutschen und der Alliierten auf Bahnanlagen und Züge war jedenfalls der Beruf des Eisenbahners zunehmend lebensgefährlich. Insgesamt 900 Eisenbahner verloren ihr Leben.
Lehren für die Zukunft
Die Empfehlungen der “Gruppe der Weisen” zielen auch auf eine Erinnerungsarbeit, die das Bewusstsein für das Geschehen wachhält und weiterträgt. Dazu gehört der Kampf gegen Diskriminierung, Ausgrenzung und Antisemitismus, aber ganz allgemein auch für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte. Daher sind Jugendliche und Schüler eine besondere Zielgruppe der Ausstellung (weshalb für diese der Eintritt frei ist). Die Vorsitzende der Gruppe stellte bei der Vorstellung der Empfehlungen allerdings mit Bestürzung fest, dass das Interesse an dem Thema bei vielen Jugendlichen schwinde. Viele lehnten vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts und des Gaza-Krieges die Befassung mit der Shoa rundweg ab. Eine Entwicklung, die zu denken geben muss.
Jedenfalls waren wir bei unserem Besuch – zugegeben an einen Wochentag – die einzigen in dem großen Museum…
Zum gleichen Thema sei auch auf einen Artikel von Herman Welter in “The Low Countries” verwiesen: Between Sabotage and Collaboration: The Belgian and Dutch Railways Under Nazi Rule
Ausstellung bis zum 28. Juni 2026
Adresse: Place Princesse Elisabeth, 5 – 1030 Schaarbeek
Kontakt : +32 (0)2 224 74 37
– info@trainworld.be
Eintrittspreis für Erwachsene 18 Euro, für Kinder und Jugendliche sowie Museum Pass-Inhaber frei.
Mehr Informationen: https://trainworld.be/de/expo/40-45/
Alle Wandtafeln in der Ausstellung können mit den deutschsprachigen Texten hier eingesehen werden: https://files.trainworld.be/texts/de/WWIIDE.pdf







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