Von Reinhard Boest
In gut sechs Wochen, am 1. Januar 2024, übernimmt Belgien turnusmäßig für sechs Monate von Spanien den Vorsitz im Ministerrat der EU. Belgische Regierungsvertreter sind daher gerade gefragte Gesprächspartner, um zu erfahren, was uns im ersten Halbjahr 2024 erwartet. Dabei sollte man aber vorausschicken, dass eine Präsidentschaft nicht frei ist, sich ihre Themen oder Prioritäten auszusuchen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, bei den Themen, die auf dem Tisch liegen, Entscheidungen herbeizuführen. Das heißt vor allem, Kompromisse zu erreichen – unter den Mitgliedstaaten, aber auch mit dem Europäischen Parlament, das in den meisten Bereichen seit langem ein gleichberechtigter Partner in der europäischen Gesetzgebung ist.
An belgische Präsidentschaften richteten sich in der Vergangenheit immer hohe Erwartungen: weil das Land nach innen stets auf politische Kompromisse angewiesen ist, könne diese Erfahrung auch für die EU von Nutzen sein. Nun hat die Kompromissfähigkeit in Belgien – zwischen den Landesteilen, aber auch den poltischen Parteien – in den letzten Jahren ziemlich gelitten. Bei allen Spannungen innerhalb der „Vivaldi“-Koalition herrscht jedoch Einvernehmen, dass darunter die Vorbereitung der Regierungen auf den EU-Ratsvositz nicht leiden darf. Mit einer erfahrenen Präsidentschaft kann daher gerechnet werden, denn Belgien übernimmt diese Funktion jetzt schon zum 13. Mal. Allerdings dürften die Bedingungen kaum jemals so schwierig gewesen sein wie jetzt.
Die EU ist auf der Suche nach ihrer Rolle angesichts zunehmender politischer und wirtschaftlicher Konflikte in der Welt und jetzt zweier kriegerischer Auseinandersetzungen in ihrer unmittelbaren Nähe. Und nach innen gibt es Meinungsverschiedenheiten über den richtigen Weg, etwa in der Migrationspolitik, bei der Energieversorgung, der Finanzierung oder über Reformen angesichts künftiger Erweiterungen der EU. Außerdem fällt in die Zeit der Präsidentschaft das Ende der Legislaturperiode des Europäischen Parlaments, und im Anschluss muss auch eine neue Kommission bestimmt werden. Im Juni 2024 wird aber nicht nur das Europäische Parlament neu gewählt, sondern auch das föderale und die regionalen Parlamente in Belgien – alles in allem extrem schwierige Rahmenbedingungen.
Anfang dieser Woche gab Außenministerin Hadja Lahbib den in Belgien akkreditierten Botschaftern einen Überblick, und am 8. Dezember wird Premierminister Alexander De Croo das Programm der Präsidentschaft offiziell vorstellen. Am Donnerstag hatten die hessische Landesvertretung und der Verband Brüssel der überparteilichen Europa-Union den belgischen EU-Botschafter Willem van de Voorde zu einem Gespräch eingeladen. Der Diplomat, der in seiner Laufbahn unter anderem Botschafter in Wien und Berlin war, gab seinen Überblick zwar in englischer Sprache, führte das anschließende Gespräch mit Ilka Wölfle, der stellvertretenden Vorsitzenden der Europa-Union Brüssel, aber in perfektem Deutsch.
Der Botschafter unterstrich, dass sich die Präsidentschaft die Themen nicht aussuchen könne, sondern daran (weiter-) arbeiten müsse, für die aktuellen Herausforderungen Lösungen zu finden. Welche das seien, könne man durch eine Lektüre der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Ende Oktober leicht feststellen: Ukraine, der Nahe Osten, die wirtschaftliche Situation, Migration und die Überprüfung der aktuellen Finanzplanung der EU (Mehrjähriger Finanzrahmen).
Angesichts der Herausforderungen müsse die EU nach innen und nach außen zusammenstehen, sagte van de Voorde. Während der Corona-Krise, aber auch in der Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine habe die EU bewiesen, dass sie das könne. Es komme darauf an, sich dieses Wertes bewusst zu sein und dieses auch den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, gerade mit Blick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament.
Der belgische EU-Botschafter geht davon aus, dass für die Arbeit an konkreten Gesetzesvorhaben nur zwei Monate zur Verfügung stehen. Ab März 2024 beginne der Wahlkampf für das Europäische Parlament. Besondere Hoffnung richtet van de Voorde darauf, dass vorher das umfangreiche Paket zur Reform des Europäischen Asylrechts abgeschlossen werden kann. Das komplexe Problem der Migration, das über Asylverfahren oder Grenzschutz weit hinausgehe, lasse sich nur europäisch bewältigen. Aber auch eine europäische Regelung werde nicht sofort die Flüchtlingsströme versiegen lassen.
Bei der Revision der Finanzvorausschau geht es darum, wie die neuen Belastungen des Haushalts, etwa durch die Unterstützung der Ukraine und inflationsbedingte Zinssteigerungen, aufgefangen werden sollen. Ob dies durch Einsparungen, Umschichtungen oder “frisches” Geld, das heißt Zahlungen der Mitgliedstaaten, erfolgen soll, ist umstritten. Hier zeigen sich die aus vergangenen Debatten bekannten Gegensätze. Van de Voorde setzt darauf, dass diese Frage noch unter der spanischen Präsidentschaft gelöst werden kann, wie es die Staats- und Regierungschefs verlangt haben.
Als wichtigste Aufgabe der belgischen Präsidentschaft sieht van de Voorde die Vorbereitung der neuen Mandatsperiode der Europäischen Kommission. Der Rahmen dafür müsse bis Ende Juni stehen. Eine große Herausforderung sei dabei auch die Frage, wie sich die EU reformieren müsse, um auf die – als historisch zu bezeichnende – Erweiterung vorbereitet zu sein. Daran müsse anschließend die folgende Präsidentschaft weiter arbeiten: Ungarn.
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