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Freundliche Zugbegleiter – aber bitte in der richtigen Sprache!

Von Reinhard Boest

Der Sprachenstreit begleitet Belgien eigentlich seit seiner Gründung vor knapp 200 Jahren. Vor hundert Jahren entwickelte sich nach und nach eine Gesetzgebung darüber, wo und wann man welche Sprache sprechen durfte, angefangen im Erziehungs- und Gerichtswesen. Die Aufteilung des Königreichs in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch die Sprachgrenze in ein niederländisch- und ein französischsprachiges Gebiet führte dann auch zu Regeln, welche Sprache gesprochen oder in bestimmten Bereichen verwendet werden musste (Sprachengesetze vom 18. Juli 1966). Perfektioniert wurde das durch eine entsprechende Bürokratie in Form der “Ständigen Kommission für Sprachenkontrolle (SKSK)”, die mit der allgemeinen Aufsicht über die Anwendung der Sprachengesetze in Verwaltungsangelegenheiten in Belgien betraut ist. Ihre Jahresberichte geben einen Eindruck von den großen und kleinen Problemen, zu denen es im täglichen Leben in einem mehrsprachigen Land kommen kann.

Der Sprachenstreit steht auch im Hintergrund der im Moment praktisch vollständig blockierten Verhandlungen über eine neue Regionalregierung in Brüssel, über die Belgieninfo mehrfach berichtet hat (zuletzt hier). Während dieses Problem dramatische Ausmaße anzunehmen droht, mutet ein anderer Fall, über den in diesen Tagen in den Medien – sogar über die Grenzen bis nach Aachen – berichtet wurde, eher skurril an. Die Sprachgesetze gelten nämlich nicht nur für die Verwaltungen in den jeweiligen Gebieten, sondern auch für sozusagen “bewegliche” Verwaltungen – wie Züge der belgischen Staatsbahn SNCB/NMBS, die auf ihrer Fahrt unvermeidlich und oft mehrfach die Sprachgrenzen überfahren. Und hier wird es kompliziert.

Der Zugbegleiter Ilyass Alba, der auch als Blogger aktiv ist, hatte in einem Zug aus Richtung Antwerpen auf dem Weg nach Brüssel im Bahnhof Vilvoorde anlässlich der Fahrkartenkontrolle die Fahrgäste mit “Goeiedag, bonjour” begrüßt. Darüber beschwerte sich ein Passagier bei der Bahn, weil Vilvoorde in Flämisch Brabant liege und daher die Verwendung der französischen Sprache verboten sei.

Damit hat er formal wohl Recht. Denn Bahnhöfe gelten im Sinne der Sprachengesetze als lokale Dienststellen, Züge als regionale Dienstleistungen (einer zentralen Einrichtung wie der Bahn). Es gilt also die Regelung des Sprachgebiets, in dem der Bahnhof liegt beziehungsweise der Zug sich gerade befindet. Also durfte der Zugbegleiter in der Tat die Passagiere nur auf Niederländisch begrüßen und nach ihren Fahrkarten fragen. Keine fünf Minuten später – mit Überfahren der Grenze zwischen Flämisch Brabant und Brüssel-Hauptstadt – wäre die Begrüßung in Ordnung gewesen, allerdings nur, wenn seine Muttersprache Niederländisch ist.

Das Sprachenregime, das die SNCB/NMBS seit vielen Jahren intern anwendet, versucht, diesem Sprach-Dschungel Rechnung zu tragen. Im (rein) französischen und niederländischen Sprachgebiet wird auf den Bahnhöfen und in den Zügen nur die jeweilige Sprache verwendet. In der zweisprachigen Region Brüssel-Hauptstadt werden Ansagen im Zug in beiden Sprachen gemacht, beginnend mit der Muttersprache des Mitglieds des Zugpersonals. In den “Gemeinden mit Spracherleichterungen”, also vor allem im flämischen Umland von Brüssel, muss dagegen die Ansage immer zuerst in Niederländisch erfolgen. Die – inzwischen üblichen – elektronischen Anzeigen im Zug “springen” zwischen den beiden Sprachen. Das Gleiche gilt für die Anzeigen in den Bahnhöfen und auf den Bahnsteigen.

Bei den Ansagen in den drei großen Brüsseler Bahnhöfen gilt eine fast schon salomonische Lösung: im Bahnhof Brüssel Süd erfolgt die Ansage zuerst auf Französisch, in Brüssel Nord auf Niederländisch; in Brüssel Zentral wechselt die Reihenfolge jährlich. Ob das schon jemand bemerkt hat? In der Tat hat sich jemand beschwert, dass in Brüssel Süd immer Französisch zuerst kommt. Die Sprachenkommission SKSK hat daraufhin 2020 die Bahn aufgefordert, wie in Brüssel Zentral die Reihenfolge regelmäßig zu wechseln (genauso in Brüssel Nord, was aber bisher nicht geschehen ist).

Ohnehin fällt auf, dass die SKSK die nach den Sprachengesetzen möglichen Ausnahmen vom jeweiligen regionalen Sprachenregime sehr restriktiv handhabt. Mehrsprachige Ansagen auf den Bahnhöfen sollen nur für internationale Züge oder solche zum nationalen Flughafen Zaventem möglich sein – aber nicht in den Zügen. Und auch wenn die Züge an die Küste von vielen Touristen genutzt werden, dürfen Ansagen im Zug, dass man etwa in Brügge wegen eines technischen Problems den Zug oder den Wagen wechseln muss, nur in niederländischer Sprache gemacht werden.

Wegen dieses kaum noch nachvollziehbaren Durcheinanders haben die Bahn und der noch amtierende föderale Verkehrsminister Georges Gilkinet von den frankophonen Grünen (Ecolo) nach dem Vorfall in Vilvoorde für eine größere Flexibilität plädiert. Die Reaktionen darauf zeigen, dass es hier nicht um eine Skurrilität geht, sondern um große Politik. In einer heftigen Debatte in der Kammer, dem föderalen Parlament, gerieten Gilkinet und der Chef der flämischen Christdemokraten Sammy Mahdi aneinander. Für Mahdi kommen Aufweichungen der geltenden Sprachengesetze nicht in Frage. Solche Forderungen zeugten von einem mangelnden Respekt für die niederländische Sprache. Für Gilkinet und den Sprecher der Bahn kommt es dagegen vorrangig darauf an, dass die Bediensteten mit den Fahrgästen einen freundlichen Umgang pflegen.

Die Bahn hat jedenfalls entschieden, trotz der förmlichen Beschwerde keine disziplinarischen Maßnahmen gegen den Zugbegleiter einzuleiten. Ob die Angelegenheit damit erledigt ist? Eine Stellungnahme der SKSK steht jedenfalls noch aus, und wie sie aussehen wird, ist absehbar.

Übrigens: wäre der belgische Staat zu weniger als 50 Prozent an seiner Bahngesellschaft beteiligt (wie inzwischen etwa an der Postbank), wären die Sprachgesetze nicht mehr anwendbar. Dann würde man mit der Sprache so umgehen, wie es private Akteure etwa in Handel und Touristik seit jeher tun, ob im Norden oder im Süden des Landes: pragmatisch und kundenorientiert…

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