In seinem Roman „Die Hand – Thomas Vinçotte zweifelt“ zeichnet der in Brüssel lebende Autor Roland Siegloff den Umgang mit den Gewalttaten im Kongo durch einen 1925 verstorbenen Bildhauer und eine in der Gegenwart lebende angehende Journalistin nach
Von Michael Stabenow
Die von 1885 bis 1960 währende belgische Kolonialherrschaft im Kongo und der Umgang damit lässt das Königreich der Flamen und Wallonen nicht los. Als König Philippe, das Staatsoberhaupt, Mitte 2002 dem zentralafrikanischen Land erstmals einen offiziellen Besuch abstattete, drückte er, wie bereits zwei Jahre zuvor schriftlich, sein „tiefstes Bedauern“ über die Verfehlungen während der Kolonialzeit aus. Zu einer nicht nur im Kongo erhofften förmlichen Entschuldigung kam es jedoch nicht – offenbar aus der Befürchtung heraus, dies könne Reparationszahlungen für den belgischen Staat nach sich ziehen.
Aus dem gleichen Grund droht ein 2021 fertiggestellter Berichtsentwurf eines parlamentarischen Ausschusses, in dem die Übergriffe und die Verantwortlichen klar benannt werden, bis auf weiteres in den Archivschränken zu verschwinden. Schon ein Jahr zuvor, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der in Amerika entstandenen Bewegung „Black Live Matters“, war in Belgien der Streit um den langen Schatten der Kolonialzeit neu entflammt. Statuen des von 1865 bis 1909 als Staatsoberhaupt amtierenden Königs Leopold II., der von 1885 bis 1908 den „Freistaat Kongo“ quasi als seinen Privatbesitz beanspruchen und ausbeuten lassen konnte, wurden beschädigt. Einige Werke wurden zur Beschwichtigung der Gemüter auch ganz von der Bildfläche entfernt.
Diese Geschehnisse bilden den Hintergrund für den spannend geschriebenen Roman „Die Hand – Thomas Vinçotte zweifelt“ von Roland Siegloff. Der in Brüssel lebende Autor, dort lange Jahre als Journalist tätig, bettet das Thema in zwei zeitlich mehr als ein Jahrhundert auseinanderliegende, aber letztlich aufeinander zulaufende Handlungsstränge ein.
Dort – in der Vergangenheit – der „Hofbildhauer“ Thomas Vinçotte (1850 bis 1925). Er ist ein stolzer Schöpfer von Statuen, Büsten und Denkmälern, nicht zuletzt zum Ruhme des lange vorbehaltlos verehrten Königs. In dem Künstler kommt aber angesichts der schon vor dem Tod von Leopold II. entbrannten Kontroverse um die Kolonialherrschaft der eine oder andere Zweifel auf.
Und hier – in der Gegenwart – die angehende Journalistin Camille Van der Straeten. Während eines Praktikums für den öffentlichen flämischen Fernsehsender ereilt sie plötzlich der Auftrag, ein „langes Stück“ über den Bildhauer zu erstellen. Daran gekommen ist sie, weil Redaktionsleiter Hans, der Camille und ihrer Wohngemeinschaft seine alte Waschmaschine überlassen und bei der Gelegenheit erfahren hat, dass sie in der nach Thomas Vinçotte benannten Straße im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek lebt.
Das mag ein wenig wie an den Haaren herbeigezogen anmuten – aber für Siegloff ist es die Grundlage für seinen literarischen Stoff. Auch Vinçotte lebt und wirkt in Schaerbeek, gerade einmal ein paar Steinwürfe von der heute nach ihm benannten Straße entfernt. Es ist die Zeit, in denen der Brüsseler Stadtteil als Folge der Industrialisierung Belgiens und nicht zuletzt auch dank der wirtschaftlichen „Erträge“ der Kolonialherrschaft einen enormen Aufschwung erlebt.
Siegloff nimmt uns mit bei Vinçottes kleinen Streifzügen durch das aufblühende Schaerbeek und den benachbarten Stadtteil Saint-Josse-ten-Noode im frühen 20. Jahrhundert. Dazu gehört nicht nur die auch heute noch vorhandene vielfältige Architektur, sondern auch ein längst nicht mehr genutzter Bahnhof. Dort besteigt Vinçotte fast tagtäglich einen Zug, um in Antwerpen einem Lehrauftrag an der Kunstakademie nachzugehen.
Der Bildhauer, Sohn eines Mathematiklehrers mit wallonischen Wurzeln, verkehrt mit seiner englischen Frau Rosa in den sogenannten besseren Kreisen. Bei einem Abendessen in einem großbürgerlichen Haus verwickelt ihn die Ehefrau eines sozialistischen Politikers in ein Gespräch über die Gräueltaten der Schergen von Leopold II. in der Kolonie. Wacker versucht Vinçotte, den „geliebten“ König zu verteidigen. Doch es nagen angesichts der Geschehnisse in Afrika, auch der vernichtenden Urteile darüber von Autoren wie Mark Twain und Joseph Conrad, durchaus Zweifel in ihm sowie am Monarchen.
Wie Vinçotte sie letztlich auflöst, darüber gibt das erst 1926 – ein Jahr nach seinem Tod – an der Place du Trône, unweit des königlichen Stadtschlosses aufgestellte Reiterstandbild Aufschluss. Es zeigt Leopold II. hoch zu Ross, aber mit einer – auf dem Titelfoto des Romans abgebildeten – leeren Hand.
Sie gehört zu jenem Arm, der fast ein Jahrhundert später, im Juni 2020, dem Reiterstandbild abgesägt wird – zweifellos ein Symbol für die vielen Hände, die einst im Kongo von belgischer Hand abgehackt wurden. Dass die Praktikantin Camille gerade ein paar Tage vor der Tat an der Place du Trône mit einem Kamerateam gedreht hat, gehört ebenfalls zu einem weiteren schriftstellerischen Kniff, mit dem der Autor Siegloff die Neugier der Leserinnen und Lesern wecken möchte. Spannend wird es nicht erst, als die Kriminalpolizei Camille dazu ausfragt.
Die junge Frau hat zuvor in ihrer Wohngemeinschaft zum Teil hitzige Diskussionen erlebt – über die Kolonialgeschichte und deren Verarbeitung, nicht zuletzt aber auch über den zuvor weitgehend unbekannten Künstler, mit dessen Namen sie, wie sie herausfindet, mehr als nur ihre Anschrift verbindet. Wie Vinçotte plagen auch Camille Zweifel – vor allem daran, ob und wie sie als angehende Journalistin dem Künstler mit dessen zuletzt ambivalenter Haltung zu König und Kolonialzeit gerecht werden kann.
Darauf gibt der Roman keine eindeutige Antwort, wohl aber, nach einigen dezenten Andeutungen, schließlich darauf, wer für die abgesägte Hand die Verantwortung trägt. Siegloff geht es in dem Buch weniger darum, die dunkelsten Kapitel belgischer Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. Im Vordergrund steht für ihn vielmehr, wie so unterschiedliche Menschen wie Thomas Vinçotte und Camille Van der Straeten mit für sie einschneidenden persönlichen Erlebnissen umgehen. Herausgekommen sind zum Glück keineswegs nur schwer zu entziffernde literarische Psychogramme.
Auch in seinem neuesten Buch widersteht Siegloff gelegentlich nicht der Verlockung zu ironischen oder gar humoristischen Einschüben. So darf die belgische Nationalspeise, die in eine spitze Papiertüte geschütteten und mit einer leckeren Soße versehenen Fritten, nicht fehlen. Auch Camille erliegt der Verlockung nicht. Auch ihr steht, wie dem jetzt einarmigen Standbild, nur eine Hand zur Verfügung. Für den Frittengenuss muss sie mit der anderen die Tüte festhalten. „Du kannst dabei“, so Siegloff vermutlich auch aus eigener Anschauung, „nicht aufs Handy schauen. Ein FastFood mit Entschleunigung“ – anders als sein neuester Roman.
Roland Siegloff, Die Hand – Thomas Vinçotte zweifelt, Böhland & Schrammer Verlag, Berlin, 2024, 204 Seiten, 15,95 Euro (in Deutschland). ISBN 978-3-943622-62-1
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