Archiv, Gastronomie

Zehn Jahre Esstragon

Eine deutsche Erfolgsgeschichte in Brüssel

Zehn Jahre Esstragon_01Die Klappe fällt am 8. April 2002: Während sie gemeinsam im damals beliebten Deutschen Bistro schuften, beschließen Marika Hemme und Ulla Fenger, dass es reicht: Sie haben keine Lust mehr, andere das Lob für ihre Arbeit einstreichen zu lassen, ihrem hart erarbeiteten Lohn hinterherzulaufen und die Suppe auszulöffeln, die ihnen ein anderer eingebrockt hat. „Suppe können wir selber ganz gut kochen und das wollen wir ab jetzt auch tun“, sagen sich die beiden: „Brüssel braucht einen deutschen Catering Service. Und den wollen wir ins Leben rufen.” Ein Rückblick auf die zehnjährige Erfolgsgeschichte von Esstragon.

Schon wenige Tage später informierten sich die zwei Jungunternehmerinnen über die Möglichkeiten einer Firmengründung und machten für 3. Mai 2002 einen Notartermin aus. In kürzester Zeit wurden viele Entscheidungen getroffen, Ideen gesammelt, das Ersparte zusammengeworfen. Die Betriebsfarbe Lavendelblau stand schnell fest, aber noch fehlte für die erfolgreiche Firmengründung das Wichtigste: ein Name. Leicht zu merken sollte er sein, aber nicht zu allgemein. Für neue Ideen sollte er stehen, aber nicht zu kompliziert klingen. Eine Verbindung zur feinen Küche sollte er haben, aber doch Bodenständigkeit vermitteln.

Klinkenputzen im EU-Viertel

Zehn Jahre Esstragon_02Die Geburtsstunde von „Esstragon“ verlief unspektakulär. Mit Pommes und Cola light feierten Marika Hemme und Ulla Fenger ihren Schritt in die Selbstständigkeit. Dann liefen sie im Brüsseler EU-Viertel mit ihrer Werbemappe von Tür zu Tür und holten erste Aufträge herein. Das Startkapital und die ersten Einnahmen wurden investiert in eine Spülmaschine, Gläser, Chafing Dishes, Transportboxen und Arbeitskleidung. Im Deutschen Wein Büro in Grimbergen lernten die beiden den Winzer Rainer Licht kennen. Seine wohlschmeckenden Tropfen vom Himmeroder Hof begleiten sie (und ihre Gäste) bis heute.

Der erste Auftrag war ein kleines Drei-Gänge-Menü. Die nächsten Aufträge waren schon für 80 bis 100 Personen, alles von zuhause aus gezaubert. Der Hauswirtschaftsraum wurde zur zweiten Küche umfunktioniert und die Doppelgarage in Lager-, Kühl- und Spülraum aufgeteilt. Schon im September 2002 wurde eine erste feste Mitarbeiterin eingestellt. Was als Nebenjob gedacht war, entwickelte sich rasend schnell zu einem riesigen Projekt. Die Esstragon-Damen entwarfen und druckten Flyer, verteilten sie an den Treffpunkten der Deutschen.

Deutsches Catering auch für Österreicher

Die Resonanz war groß, die Reaktion positiv. Nachdem im November 2002 das „Belgien Magazin“ einen Artikel („Esstragon mit Pfiff“) über den neuen deutschen Caterer in Brüssel veröffentlicht hatte, gab es kein Halten mehr: 2003 zählten zu den Kunden nicht nur deutsche Landesvertretungen wie Hessen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Bremen, Brandenburg, Sachsen, NRW, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin, sondern auch das Wien-Haus und die Arbeitskammer, die Ständigen Vertretungen Deutschlands und Österreichs, die Brüsseler Niederlassungen von KfW, GDV, DIHK, Allianz, EAPB und viele mehr.

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Zu einer anerkannten Größe im Brüsseler EU-Veranstaltungs-Karussell geworden, brauchte das Team mehr Platz. Ein leerstehendes Bankgebäude in Nossegem wurde gekauft, umgebaut und im August 2005 bezogen. Ein Koch in Festanstellung kam dazu. Im Januar 2006 eröffnete Esstragon in der Ständigen Vertretung Deutschlands eine Cafeteria, die deren Mitarbeitern bis heute einen Treffpunkt zur Kommunikation und zum Essen im Haus bietet. Der Fuhrpark wuchs und umfasste bald 6 Fahrzeuge im Esstragon-Blau. Auch bei den neuen Niederlassungen der Osteuropäischen Mitgliedsstaaten fand das deutsche Catering nun großen Anklang, zumal der Mitarbeiterstamm immer internationaler wurde. Neben Deutsch, Englisch und Französisch sprach man bald auch Russisch und Polnisch.

„Ausgebucht? Sie müssen aber!“

2007 brachte die deutsche Ratspräsidentschaft Esstragon ein riesiges Auftragsplus, das Organisationstalent der Chefinnen wurde auf eine harte Probe gestellt: „Wie – Sie sind ausgebucht? Sie müssen aber! Es werden äußerst wichtige Persönlichkeiten anwesend sein,“ hieß es. Statt anfangs im Schnitt zwei Events pro Tag mussten schließlich acht bis zehn zum Teil parallel gestemmt werden. Die Palette reichte von kleinen Lieferungen belegter Brötchen über gesetzte mehrgängige Essen für deutsche Minister bis hin zu großen Empfängen mit mehreren Hundert Gästen, bei denen Buffets oder Fingerfood angeboten wurden. Zu schaffen war das nur durch die Zusammenarbeit mit zwei Firmen, die Servicekräfte vermittelten.

Zehn Jahre Esstragon_04Die Finanzkrise bekam auch Esstragon zu spüren. In Brüssel wird seither bescheidener gegessen und gefeiert. Trotz aller Widrigkeiten war aber auch 2008 ein erfolgreiches Geschäftsjahr. Die Räumlichkeiten in Nossegem reichten zur Bewältigung aller Aufträge kaum mehr aus. Das finanzielle Risiko, die hohen Preise für Uralt-Gebäude und die Parkplatzprobleme im EU-Viertel verhinderten zunächst aber einen Umzug. Am Ende fand sich eine große Lagerhalle im Industriegebiet Zaventem als die perfekte Lösung. Im Sommer 2011 begann der Umbau, ins neue Geschäftsjahr 2012 startete man bereits vom neuen Hauptsitz aus.

Bio und Vegetarisches kommt hinzu

Aus der Küche halten sich die beiden Chefinnen mittlerweile komplett heraus. Die Zubereitung des Essens überlassen sie dem in der Zwischenzeit auf vier Köche und mehrere Küchenhilfen angewachsenem Küchenteam. Der Fokus von Esstragon liegt von Anfang an und immer noch auf der Verwendung von deutschen Produkten. Inzwischen sind Bio- und Vegetarische Küche hinzugekommen. Im Programm finden sich auch Weine aus biologischem Anbau und Bio-Säfte. Die Unternehmerinnen holen sich neue Ideen regelmäßig auf verschiedenen Messen. Der Schwerpunkt werde sich voraussichtlich mehr und mehr in Richtung regional, biologisch und Fair Trade verschieben, sagen sie.

Zehn Jahre Esstragon_05Im Frühjahr/Sommer 2012 schlägt Esstragon für Allesesser zum Beispiel ein Menü mit Lachscarpaccio mit Rucola und Parmesan oder Vitello Tonnato vor. Für Vegetarier gibt es ein gar nicht freudloses Menü, in dem mit Couscous und Hirtenkäse gefüllte Zucchini mit fruchtiger Tomatensoße die Hauptrolle spielen. Eigens für Österreicher sind natürlich Schmankerln wie Brot mit Liptauer oder ein schöner Tafelspitz zu haben und regionale Weine, vom Grünen Veltliner bis zum Zweigelt oder Blaufränkischen. Der ebenfalls angebotene deutsche Biowein und –sekt ist nicht nur politisch korrekt, sondern auch trocken und Säurearm und daher sehr bekömmlich.

Das Deutsche Bistro, in dem 2002 alles begann, gibt es schon lange nicht mehr. Die Geschichte von Esstragon aber geht weiter.

Die beiden Damen auf den Fotos sind Marika Hemme (oben) und Ulla Fenger (unten).


Fotos: Johannes Wachter

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