Aktuell, Geschichte, Verkehr

Wohl doch keine “Traditionszüge” zwischen Brüssel und Mecheln

© C.F.V.3.V. asbl

Verschmäht Belgien seine reiche Eisenbahngeschichte?

Von Reinhard Boest

Seit mehreren Jahren hat Trainworld, das in Brüssel ansässige Museum der belgischen Eisenbahn (SNCB/NMBS), versucht, einen historischen, von einer Dampflok gezogenen Personenzug auf der ältesten Bahnstrecke Belgiens verkehren zu lassen, jedenfalls ein paar Mal im Monat. Jetzt sieht es so aus, als ob daraus endgültig nichts wird: Moderne und Tradition scheinen unvereinbar.

Am 5. Mai 1835 fuhr auf der 20 Kilometer langen Strecke zwischen Brüssel und Mecheln der erste fahrplanmäßige Personenzug auf dem europäischen Kontinent. Von der Entscheidung über den Bau bis zur Eröffnung dauerte es – einschließlich Ausschreibungen und Beschaffung der Fahrzeuge – genau ein Jahr und fünf Tage, aus heutiger Sicht eine unvorstellbare Zeit. Anders als in anderen europäischen Ländern waren private Investoren an einer Eisenbahn zunächst nicht interessiert. In den Niederlanden, zu denen Belgien kurz vorher noch gehört hatte, setzte man weiterhin auf den Transport zu Wasser. Daher wurde durch Gesetz vom 1. Mai 1834 “im Königreich ein Eisenbahnsystem errichtet mit Mecheln als Mittelpunkt und Strecken nach Osten über Löwen, Lüttich und Verviers bis zur preußischen Grenze, nach Antwerpen im Norden, nach Westen über Dendermonde, Gent und Brügge bis Ostende und Richtung Süden über Brüssel und das Hennegau zur französischen Grenze”.

Neun Jahre später war dieses Kernnetz vollendet: Antwerpen wurde 1836 erreicht, Ostende 1838, die französische Grenze 1842 und die preußische 1843. Die Strecke von Lüttich nach Köln wurde die erste transeuropäische Verbindung. In den Folgejahren vergrößerte sich das belgische Eisenbahnnetz fulminant weiter, jetzt auch durch private Gesellschaften, und wurde das dichteste auf der Welt. Diese Entwicklung verlief parallel zum Aufstieg der belgischen Industrie, beides bedingte sich gegenseitig. Die Eisenbahn war für den Transport der Industriegüter genauso unverzichtbar wie für den Transport der Arbeitskräfte vom Land in die industriellen Zentren.

1907 betrug die gesamte Streckenlänge etwa 4600 Kilometer (dazu noch einmal Kleinbahnen in gleicher Länge, mit denen man fast jedes Dorf in Belgien erreichen konnte), 1930 waren es 5100 Kilometer und 1950 immer noch 5050. Danach ging es, bedingt durch die Zunahme des Autoverkehrs, aber auch durch den industriellen Niedergang, bergab: über 4236 Kilometer im Jahr 1970 auf 3140 Kilometer im Jahr 2000. Damit ist das Netz immer noch dichter als in den meisten europäischen Ländern. Durch die neu gebauten Hochgeschwindigkeitsstrecken von der französischen Grenze über Brüssel bis zur niederländischen bzw. deutschen Grenze sind seit 1997 sogar wieder einige Kilometer hinzugekommen.

Bis weit nach dem zweiten Weltkrieg bestimmten Dampflokomotiven das Bild. Der letzte dampfgeführte Personenzug verkehrte im Dezember 1966 zwischen Ath und Denderleeuw, gezogen von der Lokomotive mit der Nummer 29.013, die bis heute von Trainworld mit einigem Aufwand betriebsfähig erhalten wird. Sie stammt aus einer Serie von 300 Maschinen, die die belgische Staatsbahn am Ende des Zweiten Weltkriegs in den USA und Kanada bestellte, um die großen Verluste durch den Krieg und die deutsche Besatzung rasch ausgleichen zu können. Die Lokomotive ist also historisch doppelt von Bedeutung.

© Trainworld

Zum Ende der Dampflok-Ära setzte die SNCB/NMBS zunächst auf dieselelektrische Lokomotiven, entschied sich dann aber für eine weitgehende Elektrifizierung des Streckennetzes. Diese hatte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg auf einer Strecke begonnen: am 5. Mai 1935, also auf den Tag genau 100 Jahre nach der Eröffnung der Verbindung Brüssel – Mecheln, begann der elektrische Betrieb auf den 44 Kilometern zwischen Brüssel und Antwerpen. Heute sind 90 Prozent des Netzes elektrifiziert, und in den Investitionsplänen des Infrastrukturbetreibers Infrabel sind weitere Strecken vorgesehen.

Es ist aber vor allem die Modernisierung der Signal- und Sicherungssysteme, die jetzt der Traditionspflege zum Verhängnis wird. Schon lange sind die Züge mit Systemen ausgestattet, die etwa das Überfahren roter Signale oder zu hohe Geschwindigkeiten verhindern sollen. Mit dem bisher in Belgien verwendeten System ist auch die “29.013” ausgerüstet. Mit der Beschleunigung der Züge und der Verdichtung der Zugfolge sind die Anforderungen gestiegen, neben der Sicherheit geht es auch um Zugleitsysteme bis hin zu den technischen Voraussetzungen für ein automatisiertes Fahren. Durch Digitalisierung und Vernetzung sollen auch die Fahrgeschwindigkeit optimiert und die Streckenkapazität erhöht werden. SNCB/NMBS und Infrabel hoffen, dadurch auch die absehbare Überlastung der Verbindung zwischen dem Nord- und dem Südbahnhof in Brüssel hinauszögern zu können. Dieser 1952 eröffnete sechsgleisige Tunnel ist mit 1200 Zügen täglich der am stärksten befahrene Streckenabschnitt im belgischen Netz und ein Nadelöhr für jeden weiteren Ausbau des Angebots.

Der neue, auf europäischer Ebene festgelegte Standard (European Train Control System – ETCS) wird von den europäischen Bahngesellschaften nach und nach eingeführt. In Luxemburg und der Schweiz ist diese Umstellung bereits erfolgt. Für Belgien hat Infrabel angekündigt, dass das System bis Ende 2025 für das gesamte Netz realisiert werden soll; dann dürfen keine Züge mehr auf den Strecken fahren, die nicht damit ausgerüstet sind.

Das ist für die “29.013” eine Anforderung zu viel. Eine alte Dampflok lässt sich eben nicht mehr digitalisieren, und in Belgien ist man strikter als etwa in Deutschland oder Großbritannien, wo Dampfloks auch auf den “großen” Strecken zum Einsatz kommen. In Deutschland lässt man sich allerdings auch mit der Einführung von ETCS mehr Zeit.

So bleiben für die “29.013” demnächst also nur noch die Strecken mit Museumsverkehr, wie zwischen Maldegem und Eeklo (Provinz Ostflandern), Mariembourg und Treignes oder Ciney und Spontin (beide Provinz Namur), wo sie aber in ihrem “Arbeitsleben” nie unterwegs war. Man muss also weit fahren, um die wirkliche Faszination der Eisenbahn zu erleben, wie sie diese fauchenden Riesen verkörpern. Im Museum Trainworld kann man immerhin einen Eindruck davon bekommen, so dass sich ein Besuch sicher lohnt. Aber es sind eben nur schweigende Denkmäler aus Metall.

Auf den wirklichen Bahnstrecken dominieren heute – europaweit – weitgehend vereinheitliche Züge von Alstom, Bombardier oder Siemens. Die sind sicher moderner, schneller und bequemer; aber eben auch – langweilig…

Von Ad Meskens – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17548836

 

 

Leave a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.