Von Reinhard Boest
Die Zahl von Haushalten, die wegen hoher Gesundheitsausgaben die Grundbedürfnisse für Ernährung, Wohnung und Heizung nicht mehr decken können, ist in Belgien im Vergleich zu anderen Ländern in Westeuropa besonders hoch. Zu diesem Ergebnis kommt ein jetzt von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichter Bericht, der sich auf die (neuesten verfügbaren) Zahlen des Jahres 2020 stützt. Dieses als “catastrophic health spending” bezeichnete Phänomen ist auch in den anderen westeuropäischen WHO-Mitgliedsländern zu beobachten, und es werden zunehmend Maßnahmen dagegen ergriffen.
In Belgien waren 2020 etwa 260.000 Haushalte in dieser Situation, was 5 Prozent aller Haushalte entspricht. Der Anteil steigt aber auf 8 Prozent bei Haushalten arbeitsloser Personen und 12 Prozent beim ärmsten Fünftel der Bevölkerung. Als wichtigste Ursachen identifiziert der Bericht die hohen Eigenbeteiligungen bei Brillen, Zahnersatz und Hörgeräte; bei den ärmsten Haushalten sind es vor allem die Zuzahlungen bei Arzneimitteln, ambulanten Arztbesuchen und Labordiagnosen.
Diese übermäßige Belastung gerade der Haushalte mit den geringsten Einkommen führt die WHO auf das außerordentlich komplexe Erstattungssystem in Belgien zurück. Auch wenn es Mechanismen zur Befreiung oder Begrenzung von Zuzahlungen gebe, würden diese nicht automatisch gelten, sondern die Patienten müssten diese erst beantragen. Eine generelle Befreiung für Haushalte mit geringem Einkommen gebe es nicht. Auch die in der ambulanten Versorgung verbreitete Vorauszahlung an den Leisttungserbringer mit anschließender Erstattung durch die Krankenkasse sei für die Ärmeren oft schwierig. Dieses System sei im EU-Vergleich inzwischen unüblich geworden (in Frankreich ist es vor einigen Jahren zugunsten der Direktabrechnung zwischen Leistungserbringer und Kasse abgeschafft worden, wie sie etwa auch in Deutschland gilt). Die Kassenleistungen für Zahnersatz, Medizinprodukte und nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel hält die WHO für unzureichend. Ein Prozent der Bevölkerung hätten überhaupt keine Krankenversicherung (in Brüssel zwei Prozent).
Der Bericht erkennt an, dass Belgien seit 2020 bereits einige Bemühungen unternommen hat, um die Situation zu verbessern. So ist etwa für Besuche beim Hausarzt oder Fachärzten die prozentuale Zuzahlung durch einen Festbetrag ersetzt worden. Bei Krankenhausaufenthalten ist die Berechnung von Zuschlägen durch den behandelnden Arzt begrenzt worden. Für Personen mit geringem Einkommen erfolgt bei Besuchen beim Hausarzt die Abrechnung direkt mit der Kasse; sie müssen also nur noch den Eigenanteil (“ticket moderateur”) beim Arzt selbst bezahlen. Die Möglichkeit der Direktabrechnung mit der Kasse (“tiers payant”, Drittzahler), die bisher in Belgien verboten war, steht jetzt allen Leistungserbringern auf freiwilliger Basis offen; anscheinend machen aber die wenigsten davon Gebrauch.
Schließlich ist im Jahr 2022 die jährliche Obergrenze für Zuzahlungen (“maximum à facturer”, Maximale Gesundheitsrechnung) für die unterste Einkommensgruppe von 450 auf 250 Euro gesenkt worden. Davon profitieren aber nur Einkommen von bis zu rund 12.000 Euro im Jahr. Bei höheren Einkommen steigt diese Kappungsgrenze stufenweise bis auf maximal rund 2.000 Euro an. Bei Überschreitung erfolgt eine Erstattung oft nicht automatisch, sondern muss bei der Kasse beantragt werden. In die Rechnung gehen nur die gesetzlich vorgesehenen Eigenleistungen ein, nicht dagegen die Zuschläge von Leistungserbringern, die keinen Vertrag mit der staatlichen Sozialversicherung abgeschlossen haben (“non conventionné”); diese sind immer vom Patienten selbst zu tragen, wenn er keine private Zusatzversicherung hat.
Die WHO spricht sich für weitere Maßnahmen aus, um den Zugang zur medizinischen Versorgung (die anerkannt in Belgien auf einem sehr hohen Qualitätsniveau ist) gerade für Einkommensschwache zu erleichtern. Außerdem wird eine Vereinfachung des komplexen Erstattungssystems empfohlen. Angeregt werden etwa:
– die Abschaffung des Vorauszahlungssystems für alle Leistungen,
– eine weitere Begrenzung von Zuschlägen,
– eine weitere Absenkung der Zuzahlungsgrenze für Personen mit niedrigem Einkommen und perspektivisch eine vollständige Befreiung von Eigenanteilen,
– automatische Gewährung der höheren Erstattung (“intervention majorée”) für Einkommensschwache; das heißt nicht nur auf Antrag, weil das erfahrungsgemäß prohibitiv wirke,
– striktere Preisregulierung für Medizinprodukte, die vom Leistungskatalog der Sozialversicherung nicht umfasst sind.
Den Bericht nahm der föderale Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke zum Anlass für eine umfassende Darlegung der Aktivitäten im Bereich der Gesundheitsversorgung. Er betonte, dass es nicht nur ein Ungleichgewicht zu Lasten der ärmsten Bevölkerungsgruppen gebe, sondern sich die Unterschiede in der gesamten Bevölkerung vertieften, je mehr man sich von der Gruppe der sozial am besten Gestellten entferne. Es gehe also nicht nur um die “Verletzlichsten” einerseits und “alle anderen” andererseits. “Die Verringerung der Ungleichheiten im Gesundheitswesen und die bestmögliche Versorgung für alle sind ein täglicher Kampf”, sagte er.
Vandenbroucke verwies dann auf die seit 2020 erfolgten, oben erwähnten Verbesserungen. Die Neuregelung der Zuzahlungen helfe den Ärmsten zwar besonders, komme aber auch den mittleren Einkommensgruppen zugute. Die Zuzahlungsgrenzen seien anders als bisher nicht indexiert worden, blieben also trotz starker Inflation unverändert. Zum Ausgleich der dadurch steigende Belastung erhalte die Sozialversicherung einen staatlichen Zuschuss von 63 Millionen Euro.
Im Jahr 2022 habe man kräftig in den Bereich der Zahnpflege investiert, in 2023 sollen die Leistungen für Kinesitherapie verbessert werden – mit dem Fokus auf Therapeuten, die sich an die offiziellen Tarife halten. Von aktueller Bedeutung nach den auch psychologischen Belastungen der Corona-Krise sei ein Angebot für eine kurzzeitige psychotherapeutische Betreuung: 30.000 Therapiestunden stünden dafür wöchentlich zur Verfügung, mit einer ersten kostenfreien Sitzung und einem geringen Eigenbeitrag für die Folgesitzungen.
Ganz allgemein sollen die Leistungserbringer ermutigt werden, Konventionen mit der Krankenversicherung abzuschließen mit der Folge, dass sie sich an die von dieser festgesetzten Honorare halten und dass so die Erhebung von Zuschlägen gebremst wird, die zu Lasten der Patienten gehen. Angestrebt wird auch mehr Transparenz, etwa der Aushang der Tarife und Zuschläge in den Praxen oder eine Kostenschätzung vor einer Behandlung.
Schließlich ging Vandenbroucke auf neue niedrigschwellige Angebote ein, mit denen insbesondere besonders verletzliche Bevölkerungsgruppe erreicht werden sollen. Dazu will man etwa mit dem Angebot der kurzzeitigen psychologischen Unterstützung in die Schulen und Öffentlichen Sozialzentren gehen. “Community Health Worker” sollen bedürftige Personen auf dem Weg durch das Gesundheitssystem begleiten. Das Projekt “Behandlungsweg” (“trajet de soins”), bei dem auf der Grundlage eines Vertrags zwischen Patient, Hausarzt und Facharzt die Behandlung einer chronischen Krankheit erfolgt, soll auf weitere Bereiche ausgedehnt werden, wie etwa die Begleitung von Mutter und Kind nach der Geburt oder die Behandlung von Übergewicht.
Auch mit den jetzt von der Regierung umgesetzten oder noch geplanten Maßnahmen wird das belgische System sicherlich nicht einfacher. Fraglich bleibt auch, ob es gerechter wird. Dabei spielt insbesondere die Bindung der Gesundheitsberufe an die Konventionen eine Rolle. Der Grad der Bindung an die Konventionen ist in Belgien sehr unterschiedlich, sowohl regional als auch nach Anbietern. Während etwa die meisten Allgemeinärzte sich an Konventionen gebunden haben, ist das bei vielen Spezialisten und den Zahnärzten bei weitem nicht der Fall. Die dann möglichen Zuschläge dürften nicht nur bei den Einkommensschwächsten prohibitiv wirken. Abzuwarten bleibt auch, ob sich das Drittzahlersystem stärker durchsetzt.
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