Europa, Politik

„Unser Auftrag heißt: Europäische Unabhängigkeit“

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nutzt Auszeichnung mit dem Karlspreis zu einem Aufruf zu einem stärkeren und handlungsfähigeren Europa

Von Michael Stabenow

Der Aachener Karlspreis, seit 1950 am Himmelfahrtstag verliehen, ist so etwas wie der Nobelpreis für Verdienste um die europäische Einigung. Kein Wunder ist daher, dass die diesjährige Preisträgerin Ursula von der Leyen ihre Dankesrede im prachtvollen Krönungssaal des Aachener Rathauses mit den Worten begonnen hat: „Europa ist mein Leben. Und es ist größte Ehre meines Lebens, heute hier vor ihnen allen zu stehen.“

Erinnerungen an die Brüsseler Schulzeit

Für die 66 Jahre alte CDU-Politikerin, seit Ende 2019 Präsidentin der Europäischen Kommission, war der Auftritt in Aachen fast wie ein Heimspiel. Sie ist in Brüssel geboren, wo sie die ersten 13 Jahre verbracht und die Europaschule im Stadtteil Uccle besucht hat. Damals sei Europa, so von der Leyen, für sie „etwas völlig Selbstverständliches und Wunderbares“ gewesen. Im täglichen Kontakt mit Mitschülerinnen und –schülern der französischen, niederländischen und italienischen Sprachabteilungen habe sie Vielfalt, aber auch gemeinsames Selbstverständnis erlebt.

Auch einige Jahrzehnte später schaue sie mit den denselben Augen auf Europa, sagte von der Leyen und fuhr fort: „Ich glaube, dass es genau diese Verbindung zwischen uns ist, so verschieden und vielfältig wir auch sein mögen, die unser Europa ausmacht.“ Und dennoch: Die gravierenden Umwälzungen der jüngsten Zeit, veranschaulicht zum Beispiel durch „Putins brutalen, skrupellosen Krieg gegen die Ukraine“, handelspolitische Spannungen oder das Wiedererstarken extremistischer und illiberaler Tendenzen auf dem Alten Kontinent in Europa, empfindet die Kommissionspräsidentin als Auftrag, eine Antwort mit einem stärkeren und handlungsfähigeren Europa zu geben. „Die nächste Ära, unser großes, einendes Projekt, muss von einem unabhängigen Europa handeln“, sagte von der Leyen.

Es war in gewisser Weise eine Antwort auf die Begründung der Auszeichnung durch das Karlspreis-Direktorium. Mit dem Preis werde die Kommissionspräsidentin für ihre Verdienste um die Einheit der 27 Mitgliedsländer, die Eindämmung der Corona-Pandemie, die Geschlossenheit in der Politik gegenüber Russland, aber auch für ihre Anstöße zu mehr nachhaltigem Wirtschaften („Green Deal“) geehrt. Die Preisverleihung diene aber auch „zur Ermutigung gegenüber den anstehenden Aufgaben“.

Dom, Synagoge und Karlspreis: Drei Aachener Lehren für Europa

Genau auf diese „Ermutigung“ wollte von der Leyen offenbar in ihrer im Krönungssaal mit lang anhaltendem Beifall bedachten Dankesrede eingehen. Im ersten Teil ihrer Ausführungen ging sie, mit Bezügen auf die Rolle Aachens, auf die Grundlagen der europäischen Wertegemeinschaft ein. Am Morgen der Preisverleihung habe sie einer Messe im Aachener Dom beigewohnt. Das Bauwerk sei „ein einzigartiges Zeugnis der geistigen, kulturellen und politischen Renaissance, angestoßen durch die Vision Karls des Großen“. Nach Aachen, der Stadt, in der einst das jüdische Mädchen Anne Frank einige Zeit verbracht habe und wo 1938 die Alte Synagoge zerstört worden sei, seien nach dem Zweiten Weltkrieg nur 25 jüdische Überlebende zurückgekehrt.

Und schließlich erwähnte die Kommissionspräsidentin das Aachener Rathaus, wo 1950 erstmals der Karlspreis an Richard Coudenhove-Kalergi, den Gründer der Paneuropa-Union, vergeben worden ist. Von der Leyen erinnerte an dessen Vision: ein Europa, in dem Menschen dank geteilter Kultur und Werte zusammenkämen. Drei Bezüge zu Aachen und für die Kommissionspräsidentin letztlich auch das Fundament, auf dem die Generation der Gründerväter nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Einigung gestalten und die ihre Erben weiter entwickeln konnten. Von Frieden und Aussöhnung über die wirtschaftliche Einigung mit dem Binnenmarkt, der Währungsunion und schließlich die „Wiedervereinigung Europas“ mit den Beitritten von zehn mittel- und osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union.

Plädoyer für ein „unabhängiges Europa“

Inzwischen habe man erkennen müssen, so von der Leyen, dass die harmonischen Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer eher die Ausnahme in der Entwicklung Europas darstellten. Instabilität zeichne heute die Lage außer-, aber auch innerhalb der EU aus. „Wir können uns nicht von den gewaltigen Veränderungen, die wir erleben, aus der Bahn werfen lassen. Oder erneut dem Irrglauben verfallen, dass der Sturm einfach vorüberziehen wird“, sagte die CDU-Politikerin. Mit Blick auf das „unabhängige Europa“ nannte sie daher „vier zentrale Aufgaben“.

Ihre Aufreihung begann die Kommissionspräsidentin mit einer von Europa zu gestaltenden „neuen Form einer Pax Europa des 21. Jahrhunderts“. Insbesondere die jüngste Entwicklung in der Ukraine zwinge dazu, in Europas Sicherheit zu investieren. Anders als in ihren Ausführungen zur Handelspolitik vermied von der Leyen in diesem Punkt Hinweise auf die abgekühlten transatlantischen Beziehungen innerhalb der Nato. Sie sagte jedoch: „Die Geschichte verzeiht weder Zögern noch Zaudern. Unser Auftrag heißt: europäische Unabhängigkeit.“

Europa geht es nur gut, wenn es der Demokratie gut geht.“

Als weitere Prioritäten beim Streben nach einem „unabhängigen Europa“ nannte von der Leyen mehr Innovation und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft, die „nächste europäische Wiedervereinigung“ durch Einbeziehung der nach einer EU-Mitgliedschaft strebenden Nachbarn sowie „unsere Demokratie zu erneuern und zu stärken“. Es helfe nicht, die Wahlerfolge extremistischer Strömungen zu beklagen, und es genüge auch nicht, den Status quo zu verteidigen. „Es ist an uns, die besseren Argumente zu liefern“, sagte die Preisträgerin und fügte hinzu: „Europa geht es nur gut, wenn es der Demokratie gut geht.“

Festreden des spanischen Königs und des deutschen Kanzlers

Die Festreden anlässlich der Preisverleihung im Aachener Rathaus hielten das spanische Staatsoberhaupt König Felipe VI sowie – mit viel Spannung erwartet – Bundeskanzler Friedrich Merz. „Sie ist die Verkörperung des europäischen Geistes“, erklärte der spanische König über die Preisträgerin. Merz sagte ihr: „Du gibst Europa in der Welt eine Stimme, eine europäische Stimme.“ Anders als zu Zeiten des früheren Außenministers Henry Kissinger, der einst beklagt hatte, man wisse nicht, wer Ansprechpartner in Europa sei, habe sich diese Frage jetzt erledigt.

Merz: Bekenntnisse zu und ein Versprechen für Europa

Über den Tag hinaus von Bedeutung sein könnte das Bekenntnis des neuen deutschen Regierungschefs zu einer tragenden Rolle Deutschlands in der EU in enger Abstimmung mit den Partnern, nicht zuletzt bei der Gestaltung der Sicherheitspolitik. Europa müsse nicht nur ein Friedensprojekt nach innen, sondern auch nach außen sein. „Freiheit und Demokratie sind es wert, dass wir entschlossen für sie einstehen und, wenn notwendig, auch für sie kämpfen“, sagte der CDU-Politiker.

Es gelte auch generell, die Interessen der EU mit ihren 450 Millionen Einwohnern selbstbewusst, wie es von der Leyen tue, zu vertreten, aber dabei eine transatlantische Eskalation zu vermeiden. Freier Handel und weniger Restriktionen dienten den Menschen beiderseits des Atlantiks, erklärte der deutsche Bundeskanzler.

Merz schloss seine Rede mit einem Versprechen: „Ich werde in den nächsten Jahren mit all meiner Kraft an einem Europa mitarbeiten, das aus seinem Zusammenhalt neue Kraft schöpft. Einem Europa, das auch in Zukunft den Menschen dient – einem Europa, das vor allem unsere Freiheit verteidigt.“

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