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Niedrigemissionszonen in Brüssel: Alles zurück auf Anfang

Sitz des Verfassungsgerichtshofs an der Place Royale in Brüssel © Senat

Von Reinhard Boest

Besitzer älterer Autos in Brüssel befinden sich derzeit auf einer Art Achterbahnfahrt. Nach einer jüngsten Entscheidung des belgischen Verfassungsgerichtshofs sieht es nun wieder so aus, als sollten die Fahrzeuge doch sehr rasch aus dem Straßenbild verschwinden…

Konkret geht es um Dieselfahrzeuge der Emissionsklasse Euro 5 (Zulassung zwischen Januar 2011 und August 2015) und benzinbetriebene Autos der Klasse Euro 2 (Zulassung zwischen Januar 1997 und Dezember 2000). Eigentlich sollten diese ab 1. Januar 2025 in den Niedrigemissionszonen (low emission zones, LEZ) nicht mehr fahren dürfen. Das sah jedenfalls der Stufenplan auf der Grundlage des Brüsseler Luft-, Klima- und Energiegesetzes von 2013 so vor. Seit dem 1. Januar 2018 ist das gesamte Gebiet der Region und ihrer 19 Gemeinden LEZ. Diese dienen mit der schrittweisen Verringerung von schädlichen Kfz-Emissionen auch der Umsetzung von EU-Recht in den Bereichen Umwelt, Gesundheit und Klimaschutz.

Im September 2024 beschloss eine Mehrheit des Brüsseler Parlaments, die zum 1. Januar 2025 vorgesehene Stufe (siehe oben) um zwei Jahre zu verschieben; die davon erfassten Fahrzeuge sollen also bis Ende 2026 weiter in Brüssel fahren dürfen (Belgieninfo berichtete). Dieses Gesetz war aber offenbar derart mit heißer Nadel genäht worden, dass es im März 2025 nachgebessert werden musste, um das angestrebte Ziel – die Verschiebung der anstehenden LEZ-Stufe – klar zu regeln. Die Parteien, die diese Mehrheit zustandebrachten, hatten es wohl zu eilig, kurz vor den Kommunalwahlen ihren potentiellen Wählern einen vermeintlichen „Gefallen“ zu erweisen (Liberale, Sozialisten, Zentristen, extreme Linke und die Liste Fouad Ahidar).

Besitzer solcher Autos durften sich aber trotzdem nicht in Sicherheit wiegen, denn gegen den Rechtsakt erhoben mehrere Umweltverbände und Einzelpersonen im Juni 2025 Klage beim Verfassungsgerichtshof und konnten jetzt einen ersten Erfolg verbuchen; das Gericht setzte am 11. September die Anwendung des Gesetzes vorläufig aus; es hat jetzt drei Monate Zeit, um über die endgültige Annullierung zu entscheiden.

Eine Task Force der Brüsseler Regionalverwaltung (mit Vertretern der Bereiche Umwelt, Mobilität und Steuern) muss jetzt diese Entscheidung umsetzen. Der geschäftsführende Brüsseler Umweltminister Alain Maron (Ecolo) wird diese Aufgabe mit einer gewissen Genugtuung angehen, hatten doch die Abgeordneten seiner Partei und ihres flämischen Counterparts (Groen) gegen die Verschiebung gestimmt. Nach einer ersten Sitzung an diesem Freitag wurde klar, dass nach dem Urteil das Verbot wie ursprünglich vorgesehen seit dem 1. Januar 2025 gilt. Autos der betroffenen Emissionsklassen dürften also seither eigentlich – von begrenzten Ausnahmemöglichkeiten abgesehen – nicht mehr in Brüssel fahren; es soll aber keine rückwirkenden Bußgelder geben. Die Betroffenen sollen dagegen so schnell wie möglich informiert werden, worauf sie sich einstellen müssen.

Viel Hoffnung sollten sie sich aber nicht machen, wenn man die Begründung liest, auf die das Gericht seine Entscheidung stützt. Besonderes Gewicht misst es dem Gesundheitsschutz bei. Die drei Einzelkläger, die jeweils unter Erkrankungen der Atemwege leiden, können sich auf Artikel 23 der belgischen Verfassung berufen, der unter anderem das Recht auf ein menschenwürdiges Leben garantiert, wozu das Recht auf Gesundheitsschutz und eine gesunde Umwelt gehören. Der Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Atemwegserkrankungen wird anhand zahlreicher internationaler Studien als nachgewiesen angesehen. Darum wirke sich auch eine Verschiebung von Verbesserungen der Luftqualität für die Kläger nachteilig aus. Der erhebliche Rückgang der Schadstoffbelastung seit Einführung der LEZ belege, dass die Maßnahme den angestrebten Effekt habe.

Der andere Begründungsstrang stellt darauf ab, dass die stufenweise Reduzierung der Grenzwerte in engem Verhältnis zur Erreichung der EU-rechtlichen Vorgaben für Luftqualität und Klimaschutz steht. Die Aufschiebung einer Stufe gefährde die Erfüllung der folgenden und damit das Konzept insgesamt. Allerdings ist diese Argumentation nur solange zwingend, wie die die EU etwa an den seit der Pariser Klimakonferenz formulierten Zielen festhält und die Mitgliedstaaten dabei an Bord bleiben. In der jüngsten Vergangenheit werden die Ziele angesichts der schwierigen Wirtschaftslage immer häufiger in Frage gestellt, gerade für den Automobilsektor. Und die LEZ stehen nicht nur in Brüssel in der Kritik, sondern auch in Flandern und der Wallonie. Auch in Frankreich gibt es Bestrebungen, die LEZ in den großen Städten gänzlich abzuschaffen.

Das Gericht hält die von der Parlamentsmehrheit für die Aussetzung angeführten sozialen Gesichtspunkte nicht für stichhaltig. Insbesondere sei nicht belegt worden, dass gerade die ärmeren Bevölkerungsschichten Eigentümer der alten Autos seien, die das Verbot betreffe, und zu denen gehörten, die unbedingt auf ein Auto angewiesen seien. Die Stufen seien frühzeitig angekündigt worden, so dass man sich darauf hätte einstellen können. Der Kauf eines weniger alten Gebrauchtwagens, der aber die Grenzwerte einhalte, sei kein unüberwindliches wirtschaftliches Hindernis, das der Gesetzgeber unbedingt habe berücksichtigen müssen.

Außerdem weist das Gericht darauf hin, dass die Menschen, denen man mit der Verschiebung helfen wollte, überproportional oft an den am meisten belasteten Straßen wohnten und daher von einer Reduzierung der Schadstoffe profitierten. Schon der im Gesetzgebungsverfahren beteiligte Staatsrat hatte die mangelnde Begründung der Maßnahme gerügt, allerdings ohne Erfolg.

Im Ergebnis sieht das Gericht die mit der Verschiebung verbundene Gesundheitsgefährdung für so gravierend an, dass es eine sofortige Aussetzung des Gesetzes anordnet, ohne auf die abschließende Prüfung zu warten. Im Lichte der Begründung ist allerdings kaum damit zu rechnen, dass die endgültige Entscheidung anders ausfallen wird.

Für die künftige Brüsseler Regionalregierung – wenn sie denn irgendwann kommt – liegt hier sicherlich Konfliktpotential.

Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs:

https://fr.const-court.be/public/f/2025/2025-115f.pdf

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