Zweisprachiger deutsch-flämischer Gedichtband „Elk meer een zee, jeder See ein Meer“ erschienen
Von Michael Stabenow
Niederländischsprachige Literatur erfreut sich seit einigen Jahren in Deutschland zunehmender Beliebtheit. Dazu dürfte auch beigetragen haben, dass die Niederlande und Flandern 2016 als „Ehrengäste“ im Blickpunkt der Frankfurter Buchmesse standen. Neben Prosa weckt die vielfältige Lyrik ebenfalls Interesse – durchaus in beiden Richtungen. Einen anschaulichen Beitrag dazu leistet jetzt unter dem Titel „Elk meer een zee, jeder See ein Meer“ eine zweisprachige Gedichtsammlung.
Unter Leitung von Ine Van linthout und Stefan Wieczorek wurde der rund 70 Seiten lange Band mit Beiträgen von jeweils sechs flämischen und deutschen Autoren und Autorinnen zusammengestellt. Herausgegeben hat den Band mit jeweils einfühlsamen Übersetzungen von Wieczorek sowie von Erik De Smedt die von Van linthout mitbegründete Einrichtung „dasKULTURFORUM Antwerpen“. Es hat sich in enger Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut die Förderung des Dialogs zwischen Deutschland und Flandern zum Ziel gesetzt.
Zu den zwölf Dichtern und Dichterinnen, die zu der bunten Textsammlung beigetragen haben, gehören bekanntere und weniger bekannte Namen der Literatur. Auf flämischer Seite zählt dazu neben der schon mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichneten 31 Jahre alten Charlotte Van den Broeck – mit in Versform gefassten Eindrücken eines Grillwurstverkäufers am Berliner Alexanderplatz – die ein Jahr ältere Carmien Michels. Sie erhielt unlängst für ihren Erzählband „Vaders die rouwen“ („Väter, die trauern“) als erste flämische Nachwuchsautorin seit 2008 den mit 15000 Euro dotierten Literaturpreis der niederländischen BNG Bank.
Für die Beiträge im Band gab es keine detaillierten Vorgaben – nur einige mögliche „Anknüpfungspunkte“, zum Beispiel eigene Eindrücke der jeweiligen Nachbarn oder Reise- und sprachliche Erfahrungen. Ergebnis sei, so Van linthout und Wieczorek, dass sich Autoren und Autorinnen als „Kartographen“ mit teilweise überraschenden Erkenntnissen entpuppt hätten. Der biographische Anhang bietet, jenseits der dem einen oder anderen Text innenwohnenden Mystik, erhellende Aufschlüsse zu den Motiven.
Der Gedichtband soll, so die Herausgeber, „zu einem Blick-Wechsel einladen, also das Eigene im Blick des anderen zeigen“. Schwerpunkte sind dabei eigene Erfahrungen, der Umgang mit den einst sehr nahen, seither auseinanderdriftenden Sprachen sowie der poetische Rückgriff auf historische Ereignisse und Gestalten.
So liefert der Antwerpener Autor Andy Fierens eine Ode auf Alexander von Humboldt („der größte aller Alexander”). Carmien Michels schildert in ihrem Gedicht „Deutsche Romantik“ eine poetische Annäherung – per Fahrrad – an die einst bei Münster beheimatete Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.
Die aus Deutschland stammenden Beiträge sind ebenfalls facettenreich. Sie reichen von einer treffenden Beschreibung der Flandern-Rundfahrt für Radprofis, die Jahr für Jahr Hunderttausende in ihren Bann zieht, durch Christoph Wenzel bis zu einer die Fantasie anregenden Beschreibung des Herumschweifens und –streifens einer Tante, der Autorin Nora Gomringer, über belgische Märkte. Ebenso spannend wie rätselhaft mutet die Schilderung der Befindlichkeiten einer in Leipzig gestrandeten Antwerpener Diamantenhändlerin durch Ulrike Almut Sandig an.
Den Weg zum Titel des Sammelbands weist das Gedicht „Alte Schwestern“ der flämischen Poetin Maud Vanhauwaert. Sie thematisiert darin das Auseinanderdriften der deutschen und der niederländischen Sprache – nicht nur mit dem Ergebnis, dass heute der niederländischen „Zee“ das deutsche „Meer“ entspricht sowie umgekehrt dem deutschen „See“ das niederländische „Meer“. Dies ist aber keineswegs der einzige Grund, den mit seinen oft spannenden, gelegentlich auch – wie für Lyrik üblich – Rätselraten hinterlassenden Gedichtband zur Hand zu nehmen.
Das Werk enthält Gedichte von Andy Fierens, Nora Gomringer, Adrian Kasnitz, Stan Lafleur, Ruth Lasters, Tristan Marquardt, Carmien Michels, Ulrike Almut Sandig, Max Temmerman, Charlotte Van den Broeck, Maud Vanhauwaert sowie Christoph Wenzel.
„Elk meer een zee, jeder See ein Meer“, zusammengestellt von Ine Van linthout und Stefan Wieczorek, Uitgeverij Vrijdag, Antwerpen 2022, 71 Seiten, 20 Euro; ISBN 978 94 6434 050 1
Vielen Dank, Herr Stabenow, für diesen schönen Beitrag zu unserem Gedichtband!
Wer den Band gerne bestellen möchte, findet hier das Bestellformular: https://daskulturforum.be/de/bestellen/