
Von Reinhard Boest
Jetzt also ohne Georges-Louis Bouchez, den Vorsitzenden der frankophonen Liberalen (MR)? Der Chef der Zentrumspartei “Les Engagés”, Yvon Verougstraete, will nach mehr als anderthalb Jahren endlich eine Regierung für die Region Brüssel-Hauptstadt zustandebringen und dafür jetzt ein Mitte-Links-Bündnis versuchen. Dies ist ein ungewöhnlicher Schritt, da der MR aus den Wahlen im Juni 2024 als stärkste Kraft hervorgegangen ist und MR und “Les Engagés” Regierungspartner nicht nur auf der föderalen Ebene sind, sondern auch in der Wallonie und der Föderation Brüssel/Wallonie (FWB).
Bouchez hatte nach dem Rückzug seines Parteifreundes David Leisterh als Regierungsbildner selbst diese Aufgabe übernommen (obwohl er kein politisches Mandat in Brüssel hat und daher auch nicht selbst Ministerpräsident der Region werden kann). Ein Durchbruch war ihm aber auch nicht gelungen, wofür ihm Verougstraete eine Frist bis Mitte dieser Woche gegeben hatte.
Jetzt will er es also selbst versuchen. Es ist nicht das erste Mal, denn schon im Sommer hatte er als “Ermöglicher” (facilitateur) daran gearbeitet, die verkeilten Streithähne irgendwie doch zusammenzubringen. Wie man weiß, ohne Erfolg. Der neue Anlauf ist der siebte seit der Wahl, wie der Fernsehsender RTBF nachgezählt hat. Aber es ist der erste, der nicht den Wahlsieger MR einschließt.
In einem auf der Internetseite der Partei veröffentlichen Brief “an die lieben Brüsselerinnen und Brüsseler” erläutert Verougstraete seine Beweggründe. Er leide mit seiner Region, die einem “tödlichen Risiko” ausgesetzt sei, genauso wie ihre Vereine, Unternehmen und auch ihr Image. Offenbar gebe es keinen Ausweg aus der Sackgasse mit einer Mehrheit, die entweder MR und die frankophonen Sozialisten (PS) oder MR und die frankophonen Grünen (Ecolo) umfasse.
Ohne MR wird die Bildung einer Mehrheit aber nicht einfacher. Denn diese braucht man nicht nur unter den 72 frankophonen Mitgliedern des Regionalparlaments, sondern auch unter den 17 niederländischsprachigen. Verougstraete zählt auf der frankophonen Seite auf seine eigene Partei, PS, Ecolo und Défi (die sich zur liberalen Familie zählenden Nachfolgepartei der früheren “Front des Francophones”). Verhandlungspartner auf der niederländischsprachigen Seite sollen die Grünen (Groen), die Sozialisten (Vooruit) und die Christdemokraten (CD&V) sein.
Wer die Zusammensetzung des Parlaments kennt, kann leicht feststellen, dass eine solche Konstellation keine Mehrheit hätte: 36 von 72 bei den Frankophonen, 7 von 17 bei den Niederländischsprachigen. Verougstraete räumt das ein und will die fehlenden Sitze etwa bei den beiden unabhängigen Frankophonen und bei den flämischen Liberalen (Open VLD) suchen. Ob das realistisch ist? Open VLD-Chef Frédéric De Gucht hat bei den bisherigen Verhandlungen ziemlich deutlich erkennen lassen, dass er sich eine Koalition mit dem PS nicht vorstellen kann. Er wirft den Sozialisten vor, dass sie reformunfähig seien, insbesondere was die Sanierung der kritischen Finanzlage der Region angehe.
Aber auch auf der frankophonen Seite kann sich Verougstraete der Unterstützung nicht sicher sein. Défi hat seit der Wahl schon zwei seiner sechs Parlamentsmitglieder durch Aus- oder Übertritte verloren und kämpft um das politische Überleben. Parteichefin Sophie Rohonyi hat aber eine konstruktive Haltung “im Interesse unserer Region Brüssel” zugesagt. Ecolo hat die Initiative begrüßt, vor allem eine Koalition ohne MR. Die Grünen tragen dem MR vor allem noch immer nach, dass dieser sie in der Brüsseler Gemeinde Ixelles um das Bürgermeisteramt gebracht hat, obwohl sie bei der Kommunalwahl die stärkste Partei geblieben waren.
Der “Engagés”-Chef weiß, dass alle Seiten erhebliche Zugeständnisse machen müssen. Er hat vier Kernpunkte definiert, die für erfolgreiche Verhandlungen erfüllt sein müssten. Erforderlich seien Strukturreformen, um die Region wieder auf die Beine zu bringen. Im Haushalt müsse perspektivisch eine Milliarde Euro eingespart werden. Die Regierung dürfe sich nicht als Opposition zur Arizona-Koalition auf der föderalen Ebene verstehen, und schließlich müsse es einen klaren Anspruch für die Region geben. Es ist kaum zu übersehen, dass damit auch ein Signal an die Sozialisten gesendet werden – und umgekehrt Frédéric de Gucht beruhigt werden soll.
Ob der neue Anlauf erfolgreich sein wird, ist kaum vorherzusehen. Denn die handelnden Personen bleiben dieselben. Insbesondere die Gegensätze zwischen dem Brüsseler PS-Chef Ahmed Laaouej und De Gucht erscheinen fast unüberbrückbar, sowohl inhaltlich als auch persönlich. Daran ändert wohl auch ein Streitgespräch nichts, das jetzt auf Einladung des Business-Clubs “The Merode” stattgefunden hat und in dem die Zeitung “Le Soir” vor allem “die Kunst, streitige Themen zu vermeiden” sah.
Der “ausgebootete” Partner Bouchez reagierte dagegen erwartet heftig. Es gehe nicht an, den Wahlsieger von der Regierungsbildung auszuschließen. Die Entscheidung werde “Spuren hinterlassen”. Diese Ankündigung (oder Drohung) bezog sich ausdrücklich auch auf die Zusammenarbeit in den Regierungen, denen MR und Les Engagés gemeinsam angehören, also auf der föderalen Ebene sowie in der Wallonie und der FWB. “Es gibt viele Dossiers, bei denen ich gegenüber meinem Partner loyal war, aber jetzt funktionieren wir ‘free-lance’. Ich fühle mich nicht mehr gebunden”, sagte Bouchez.
Auch aus der CD&V kommen kritische Töne. Parteichef Sammy Mahdi lehnt eine Mitte-Links-Regierung in Brüssel ab. Stattdessen plädiert er für eine “breite Mitte”,,zu der auf jeden Fall der MR gehören müsse”. Alles andere sei Zeitverschwendung.
Verougstraete verpasste der von ihm angestrebten Koalition das Etikett “Guinness” – in Anspielung auf das gleichnamige Buch der Rekorde. Und das nicht nur wegen des kürzlich gebrochenen Rekords von 541 Tagen für die Dauer einer Regierungsbildung. Witzbolde haben aber schon eine andere Eigenschaft von “Guinness” (diesmal das irische Bier) ausgemacht: es ist dunkel, wenig prickelnd und braucht Zeit, bis es servierfertig ist.







Beiträge und Meinungen