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Ein „nationales Brainstorming“ zur Zukunft Belgiens

Foto: stttijn CC BY-NC-ND 2.0 via FlickR

Bis Anfang Juni laufende Bürgerbefragung soll Schwung in die politische Debatte bringen

Von Michael Stabenow

Belgien ist – schon seit einem halben Jahrhundert – im Umbruch. Für die Zeit nach 2024 kündigt sich eine weitere, siebte Staatsreform an. Vor diesem Hintergrund, aber durchaus auch mit darüber hinausgehenden Absichten, hat die belgische Regierung jetzt eine umfangreiche Bürgerbefragung zur Gestaltung der Zukunft des Königreichs der Flamen und Wallonen auf den Weg gebracht. Bis zum 5. Juni können sich alle Einwohnerinnen und Einwohner Belgiens ab einem Alter von 16 Jahren daran beteiligen – ob Staatsangehörige oder nicht.

„Nationales Brainstorming“

Der nach sechs thematischen Schwerpunkten gegliederte Fragenkatalog ist im Internet abrufbar unter dem Link Een land voor de toekomst – Un pays pour demain – Ein Land der Zukunft (demain-toekomst-zukunft.be). Erwünscht sind zum Beispiel auch Eingaben von Organisationen der Zivilgesellschaft, Wissenschaftlern oder örtlichen Einrichtungen. Ziel sei es, „in einer Art nationalem Brainstorming Ideen zu sammeln und Anregungen zu erhalten“, sagte Innenministerin Annelies Verlinden. Die flämische Christliche Demokratin ist gemeinsam mit dem für institutionelle Reformen zuständigen Minister David Clarinval, einem wallonischen Liberalen, für die Vorbereitung der nächsten Stufe des Umbaus des Staats zuständig.

Belgien gehört zu den Ländern, die durchaus Erfahrungen mit partizipativen Prozessen gesammelt haben. Vor über einem Jahrzehnt erarbeitete auf Initiative des Publizisten David Van Reybrouck ein Bürgerforum unter der Bezeichnung „G1000“ zahlreiche Anregungen zum Umbau des Staates, zur Stärkung der direkten Demokratie oder auch zu mehr Verträglichkeit zwischen den Sprachgemeinschaften des Landes.

Die Empfehlungen sind auch in englischer Sprache verfügbar: G1000 – Final Report. Wie berichtet, hat es unlängst auch ein erfolgreiches Modell der Bürgerbeteiligung im deutschsprachigen Ostbelgien gegeben (Bürgerdialog Ostbelgien: erster Praxistest bestanden – Belgieninfo).

Sechs „Herausforderungen“

Die sechs Hauptthemen – „Herausforderungen“ – der bis Anfang Juni in den drei Landessprachen Niederländisch, Französisch und Deutsch laufenden Bürgerbefragung der belgischen Bundesregierung lauten: 1. Die Rolle der Bürger. 2. Wie organisieren wir unser Land? 3. Wie sollten Parlament und Regierung arbeiten? 4. Welches sind unsere Grundrechte? 5. Wer macht was? 6. Wie organisieren wir Wahlen?

Der von Wissenschaftlern erarbeitete Fragenkatalog ist sehr umfangreich und enthält zu den einzelnen Themen nicht immer gut verständliche Erläuterungen. Dies gilt zum Beispiel für die einzelnen Schritte des bisherigen staatlichen Umbaus mit der Übertragung von immer mehr Zuständigkeiten auf die regionale Ebene. So heißt es: „Im Laufe der Jahre wurden immer mehr Angelegenheiten von der föderalen Ebene auf die anderen Ebenen verlagert. Das Kindergeld zum Beispiel ging an die Gemeinschaften. Beschäftigung und Wohnen gingen an die Regionen.“

An den Haaren herbeigezogenes Beispiel

Manchmal wirken die Beispiele etwas an den Haaren herbeigezogen. Da wird zur Erläuterung des sprachlichen Umgangs mit den Behörden ein in Belgien lebender Grieche namens Cosmo angeführt, der  – „das ist sein gutes Recht“ – Griechisch und Englisch spreche. Dann folgt die Einschränkung: „Die Verfassung besagt, dass wir frei sind, die Sprache unserer Wahl zu verwenden. Die Behörden kommunizieren dahingegen im Prinzip nur in der Sprache des betreffenden Gebiets“. Wer den Fragebogen beantwortet, kann diese Praxis durchaus anzweifeln. Bewirken dürfte das freilich nichts, da eine Änderung des Sprachenregimes in Belgien politisch tabu ist.

Durch das erwartete Konvolut an Antworten wird sich ein Team um die Wissenschaftler Patricia Popelier (Universität Antwerpen), Jean-Benoît Pilet (ULB, Brüssel) und Dave Sinardet (VUB – Brüssel) hindurcharbeiten. Ein Abschlussbericht soll im Herbst vorliegen. Möglicherweise werden sich daran Bürgerforen, auch unter Beteiligung von Parlamentariern, anschließen.

Ziel ist es, die Bevölkerung unmittelbarer in politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Premierminister Alexander De Croo gab zu bedenken, dass es nicht zuletzt bei den mit dem Umbau des Staats zusammenhängenden Themen zu wenig Einbindung von Bürgern und Zivilgesellschaft gebe. Die entscheidenden Beratungen „finden „in den Hinterzimmern eines Schlosses statt“, zitierte die Zeitung „De Standaard“ den flämischen Liberalen.

Kritische Stimmen melden sich zu Wort

Aus der Opposition gibt es scharfe Kritik. Sander Loones von der Neu-Flämischen Allianz (N-VA) des Antwerpener Bürgermeisters Bart De Wever hält die veranschlagten Kosten von 2,1 Millionen Euro für die Kampagne für „rausgeschmissenes Geld.“ Unter Anspielung auf den unverbindlichen Charakter der Befragung erklärte der N-VA-Parlamentarier auf Twitter: „Die Regierung De Croo bestimmt, worüber Sie eine Meinung haben dürfen – aber vor allem, worüber nicht.“

Kritik gibt es auch an der Komplexität des Fragenkatalogs. Ebenfalls auf Twitter beklagte Klaas Soens, leitender Mitarbeiter des belgischen Einzelhandelsverbandes Comeos: „Die Bürgerbefragung ist viel zu lang, zu schwer und daher eine vertane Chance. Ich verfüge über einen Hochschuldabschluss, interessiere mich für Politik und habe nach einem Sechstel der Befragung abgeschaltet.“

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