Von Reinhard Boest
“Habemus Laufzeitverlängerung” – so könnte man sagen, nachdem sich jetzt die belgische Regierung und der französische Betreiber Engie endlich über die Bedingungen geeinigt haben, unter denen die beiden Atomkraftwerke Doel 4 (bei Antwerpen) und Tihange 3 (bei Huy in der Provinz Lüttich) zehn Jahre länger laufen sollen. Seit einer Grundsatzeinigung im vergangenen Januar brauchte es also noch fast ein halbes Jahr, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Wie schwierig die Verhandlungen sich gestalteten, mag man daran erkennen, dass anscheinend 16 Verhandlungsrunden auf der höchsten Ebene nötig waren, nämlich zwischen Premierminister Alexander De Croo, Energieministerin Tinne Van der Straeten und der Engie-Generaldirektorin Catherine MacGregor.
Die zentralen Streitpunkte waren die Verfügbarkeit der beiden Reaktoren im Winter 2025/26 sowie die Aufteilung der Lasten für den Rückbau der Meiler und für die Endlagerung der radoaktiven Abfälle.
Bereits im Januar hatte man sich mit Engie grundsätzlich darauf verständigt, die beiden Atomkraftwerke, die laut dem Atomausstiegsgesetz von 2003 eigentlich Ende 2025 abgeschaltet werden sollten, bis 2036 weiter zu betreiben. Dieser Kurswechsel stellte die an der belgischen Vivaldi-Koalition beteiligten Grünen vor eine Zerreißprobe, war aber vor dem Hintergrund der durch den russischen Überfall auf die Ukraine völlig veränderten energiepolitischen Rahmenbedingungen letztlich unvermeidbar. Vor allem in den kommenden drei Wintern befürchtete der belgische Stromnetzbetreiber Elia eine Versorgungslücke.
Wie sieht jetzt die Einigung im Detail aus? Engie und der belgische Staat beteiligen sich je zur Hälfte an einer Gesellschaft, die für den Fortbetrieb der beiden Reaktoren gebildet wird. Sie beteiligen sich ebenfalls je zur Hälfte an den Kosten für die Investitionen, die für die Verlängerung notwendig sind. Bis November 2026 sollten beide Anlagen für weitere zehn Jahre Laufzeit “fit” gemacht werden; dafür hätte man sie vom Sommer 2025 bis November 2026 abschalten müssen. Da man den Strom aber auch schon zu Beginn des Winters 2025/26 braucht, sollen (nur) die dafür erforderlichen Arbeiten vorher erfolgen, die weiteren dann in den ersten Jahren der verlängerten Laufzeit. Für dieses Szenario (“flex-LTO” – flexible Long Term Operation), das Gegenstand einer Prüfung durch die Atomaufsichtsbehörde AFCN /FANC war, müssen allerdings noch die Bestimmungen geändert werden, die derzeit den Betrieb der Anlagen regeln.
Für den in der verlängerten Laufzeit gelieferten Strom wird ein Basispreis definiert. Liegt der Marktpreis darunter, muss der belgische Staat an Engie die Differenz zahlen; liegt er darüber, steht ihm der Überschuss zu.
Am schwierigsten war aber die Einigung über die Lasten nach dem Ende des Betriebs der Atomkraftwerke in Belgien. Dabei geht es nicht nur Doel 4 und Tihange 3, sondern um alle sieben Meiler an den beiden Standorten. Doel 3 und Tihange 2 sind im Oktober 2022 beziehungsweise Februar 2023 endgültig vom Netz gegangen; Doel 1 und 2 sowie Tihange 1 werden im Laufe des Jahres 2025 abgeschaltet (zwischen Februar und Dezember). Was mit den stillgelegten Meilern und dem radioaktiven Abfall geschehen soll, ist in Belgien bisher kaum geklärt. Im Oktober 2022 ist in einer Verordnung der Grundsatz festgelegt worden, dass radioaktive Abfälle unterirdisch in Belgien gelagert werden sollen. Die Modalitäten (wo, wann, wie) sind offen und sollen in “partizipativer und transparenter Weise” geklärt werden. Dieser Prozess, mit dem die König Baudouin-Stiftung beauftragt worden ist, soll die weiteren notwendigen Entscheidungen vorbereiten – der Zeitplan dafür ist offen.
Für Engie als privatwirtschaftliches Unternehmen war vor allem die Kostenfrage wichtig. Über die Kosten der Entsorgung gibt es bisher keine verlässlichen Zahlen – nicht nur in Belgien. Die Erfahrungen zeigen allerdings, dass die Kosten durchweg höher sind als angenommen. Bisher hat Engie – gemäß dem Verursacherprinzip – rund 8 Milliarden Euro in einen dafür gebildeten Fonds eingezahlt. Dass diese Summe nicht ausreichen wird, ist absehbar. Engie wollte daher Klarheit über die “Abschlussrechnung”. Im Ergebnis wird es in Belgien die gleiche Lösung geben wie in Deutschland: Die Verantwortung für die sichere Endlagerung übernimmt der Staat, die Betreiber “kaufen sich frei””. Die Einigung sieht vor, dass Engie in zwei Teilbeträgen 2024 und 2026 weitere 15 Milliarden Euro zahlt, zusätzlich zu den 8 Milliarden aus dem Fonds. Liegen die Kosten höher als diese 23 Millarden Euro (immerhin fast so viel, wie die Betreiber der deutschen Atomkraftwerke gezahlt haben) geht dies zu Lasten des belgischen Staates. Die Gelder sind nur für die radioaktiven Abfälle bestimmt; für den Rückbau der Kraftwerke bleibt Engie (auch finanziell) verantwortlich.
Die Einigung ist vom sogenannten Kernkabinett, dem die wichtigsten belgischen Regierungsmitglieder angehören, und vom Engie-Verwaltungsrat gebilligt worden. Eine Bewertung durch die EU-Kommission steht noch aus. Sie soll bis Ende Juli umgesetzt werden.
Aus der Opposition gab es am Donnerstag in der Abgeordnetenkammer Gegenwind – von links und von rechts. Während die linke PTB kritisierte, dass Engie mit der vereinbarten Zahlung “zu billig” davonkomme und sich seiner Verantwortung für die Atomabfälle entziehe, war unter anderem von den flämischen Nationalisten der N-VA zu hören, dass das Festhalten am Atomausstieg – wenn nun auch zehn Jahre später – die Verhandlungsposition der Regierung geschwächt habe. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Debatte über die Nutzung der Atomenergie in Belgien noch lange nicht zu Ende ist.
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