Von Michael Stabenow
Eigentlich sollte es schon im September 2020 das Licht des belgischen Covid-Alltags erblicken. Nun, nach gut einem halben Dutzend Anläufen, wird es am 28. Januar so weit sein: Das sogenannte Corona-Barometer soll künftig als Richtschnur für die bei einem Anstieg oder Abflauen der Pandemie vom Staat zu treffenden oder zu lockernden Schutzvorkehrungen dienen.
Eindringlich hatten zuletzt Vertreter der Kulturlebens, des Gaststättengewerbes und Sportveranstalter vor zu strengen Maßstäben gewarnt – mit Erfolg: Der „Konzertierungsausschuss“ der Spitzen von Föderal- und Regionalregierungen lockerte am Freitag (21. Januar) die Kriterien gegenüber den ursprünglichen Plänen.
Über die teils hitzige Debatte zum „Corona-Barometer“ geriet eine Reihe weiterer Beschlüsse in den Hintergrund: So dürfen Cafés und Restaurants von Dienstag an eine Stunde später – um Mitternacht statt um 23 Uhr – schließen. Bei Kultur- und sonstigen Veranstaltungen in Innenräumlichkeiten dürfen, soweit mehr als 200 Besucher kommen, 70 Prozent der Sitzplätze besetzt werden. Bei ausreichender Durchlüftung gilt keinerlei Obergrenze. Weiter in Kraft bleiben die Verpflichtungen, an vier von fünf Tagen im „Homeoffice“ zu arbeiten, aber auch die Auflagen für das Tragen von Nasen- und Mundschutz sowie die Beschränkungen bei Einkäufen in Geschäften.
Es mag verwundern, dass Belgien zu einem Zeitpunkt, zu dem die Zahl der Neuinfektionen weiter stark steigt und die Siebentageinzidenz mit mehr als 2500 Fällen je 100000 Einwohnern fast viermal so hoch wie in Deutschland liegt, die Vorkehrungen lockert. Virologen schätzen jedoch, dass der Höhepunkt der Neuinfektionen dieser Tage überschritten wird und es spätestens Anfang Februar auch mit der Zahl der Neunaufnahmen von Covid-Patienten in den Kliniken wieder bergab geht.
Zudem wird auch darauf verwiesen, dass die Omikron-Variante, auf die inzwischen in Belgien gut 95 Prozent aller Neuinfektionen entfallen, zwar deutlich ansteckender als die bisherigen Varianten sei, aber auch seltener zu schweren Krankheitsverläufen führe. Premierminister Alexander De Croo sagte, in der vergangenen Woche seien im Land 400000 Neuinfektionen gemeldet worden; die tatsächliche Anzahl sei allerdings vermutlich drei- bis viermal so hoch.
Die in Belgien hohe Zahl der Geimpften und Genesenen, so De Croo, habe bisher verhindert, dass es zu einem höheren Druck auf das Gesundheitswesen gekommen sei. So haben 53,6 Prozent der Gesamtbevölkerung die Auffrischungsimpfung erhalten. Darin sind die miserablen Zahlen für Brüssel enthalten, wo erst 29,6 Prozent der Bewohner dreifach geimpft sind.
Wegen der vergleichsweise entspannten Lage in den Krankenhäusern wird für das „Corona-Barometer“ nicht die Zahl der Neuinfektionen berücksichtigt. Maßgeblich sind die Anzahl der Klinikaufnahmen und die der Patienten auf den Intensivstationen. Unterschieden wird dabei zwischen einem roten, orangenen und gelben Code.
Für die mit relativ wenigen Belastungen für das Gesundheitswesen verbundene unterste Schwelle gelten als Kriterien weniger als 300 Intensivpatienten sowie täglich weniger als 65 Neuaufnahmen in den Kliniken. Beim orangefarbenen Code ist von einer „zunehmenden Belastung“ die Rede. Als Referenzwerte gelten 65 bis 149 Neuaufnahmen in den Kliniken sowie 300 bis 500 Intensivpatienten.
Für den vom kommenden Freitag an gültigen roten Code – „hohes Risiko der Überlastung“ – wurden Schwellen von 500 Intensivpatienten sowie 150 Neuaufnahmen in den Krankenhäusern beschlossen. Die zuletzt weiter leicht – auf 367 – gesunkene Zahl der Intensivpatienten liegt zwar unterhalb der Schwelle von 500; dafür ist jedoch die Zahl der täglich aufgenommen Covid-Patienten auf den “normalen” Krankenstationen im Wochenvergleich um knapp 40 Prozent auf durchschnittlich 255 pro Tag gestiegen.
Das „Corona-Barometer“ soll zunächst vor allem für öffentliche Veranstaltungen, Freizeitaktivitäten sowie das Gaststättengewerbe herangezogen werden. De Croo verwies darauf, dass jetzt nicht auf „Autopilot“ umgestellt werde, sondern der Konzertierungsausschuss auch weiterhin über Verschärfungen oder Lockerungen entscheiden werde. Dabei sollen nicht nur die epidemiologische Lage und die Belastung des Gesundheitswesens, sondern auch Faktoren wie das wirtschaftliche Umfeld, das „gesellschaftliche Wohlbefinden“ und die Motivation der Bevölkerung für Entscheidungen berücksichtigt werden.
Der Leiter der Gesundheitsbehörde Sciensano, Steven Van Gucht, sagte am Freitagabend im Fernsehsender VRT, die Beschlüsse kämen aus epidemiologischer Sicht „etwas zu früh“. Es sei aber verständlich, dass die Gesichtspunkte der Akzeptanz der Maßnahmen durch die nach zwei Jahren Beschränkungen ziemlich strapazierte Bevölkerung sowie die Befindlichkeit „bestimmter Sektoren“ – konkret wurde er nicht – zu den Beschlüssen der Föderal- und Regionalregierungen beigetragen habe. Pedro Facon, der Leiter des mit der Ausarbeitung des „Corona-Barometers“ federführend betrauten „Corona-Kommissariats“, zeigte sich zufrieden und sagte: „Schwierige Geburten führen häufig zu schönen Kindchen.“
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