
Von Reinhard Boest
Belgien kommt, außer wenn über Brüssel-EU oder Brüssel-NATO berichtet wird, in den deutschen Medien – leider – kaum vor. Und wenn, dann mit Schreckensmeldungen wie nach den Anschlägen vor jetzt fast zehn Jahren am Flughafen und in der Metro in Brüssel.
So ist es nicht überraschend, wenn es jetzt erneut ein “Alarmthema” ist, das es in den Deutschlandfunk (DLF) geschafft hat: “Ist Belgien auf dem Weg in einen ‘Narcostaat’?” Diesen Begriff kenne man ja bisher eher aus Südamerika. Aber ein kleiner Nachbarstaat in Europa? Anlass ist ein offener Brief, den eine Untersuchungsrichterin aus Antwerpen im Oktober anonym veröffentlicht hat und über den der flämische Sender VRT berichtet hat. Darin äußert sie diese Befürchtung, denn umfangreiche Mafiastrukturen im Drogenmilieu seien zu einer Macht geworden, die die Polizei und zunehmend auch die Justiz bedrohten.
Schattenwirtschaft, Korruption und Gewalt seien Kennzeichen eines Narcostaates, und für all dies gebe es in Belgien in den vergangenen Jahren konkrete Vorfälle, heißt es in dem Schreiben der Untersuchungsrichterin. Im Zusammenhang mit der Drogenkriminalität seien auch schon Mitarbeiter der Polizei, des Zolls und sogar der Justiz selbst wegen Korruption festgenommen worden. Wenn Richter bedroht würden (oder Staatsanwälte, wie jüngst in Brüssel), sei es in Gerichtsverfahren, sei es privat, stehe die Handlungsfähigkeit der Justiz und damit der Rechtsstaat auf dem Spiel. Die Regierung sei bisher weitgehend untätig geblieben, beklagt sie.
In dem Brief, der an den Rechtsausschuss der Kammer gerichtet war, werden fünf Punkte genannt, die kurzfristig umgesetzt werden könnten: Anonymisierung der Arbeit der befassten Justizpersonen und Abschirmung ihrer Privatadressen, Ansprechpersonen für bedrohte Richter, Versicherung gegen Personen- und Sachschäden und konsequente Unterbindung der Kommunikation aus den Gefängnissen. Justizministerin Annelies Verlinden von den flämischen Christdemokraten hat vor einigen Tagen im Ausschuss auf erste Bemühungen hingewiesen, mit denen man diesen Anliegen Rechnung tragen will (https://www.lachambre.be/doc/CCRI/pdf/56/ic249.pdf (Seiten 4-9)).
Wie groß die Herausforderungen sind, zeigt sich aber auch an der zunehmenden Gewalt, besonders augenfällig an den Schießereien in einigen Stadtteilen in Brüssel, Antwerpen und Charleroi. Wurden vor zwei Jahren noch 300 solcher Vorfälle gemeldet, sind es in diesem Jahr bereits 500. Es ist unstreitig, dass diese Zunahme auf das Drogenmilieu zurückzuführen ist, auch auf Kämpfe zwischen Banden in einem umstrittenen Markt. Besorgniserregend ist auch, dass die Beteiligten immer jünger werden.
Belgien steht besonders im Fokus, weil der Hafen Antwerpen als ein zentrales Einfallstor im internationalen Drogenhandel gilt. Auch hier werden diejenigen, die die geschmuggelten Drogenlieferungen aus den Containern holen, immer jünger. Sie kommen oft nicht aus Belgien, sondern aus den nahe gelegenen Niederlanden und verschwinden schnell über die Grenze. Um die Sicherheit zu verbessern, bemühen sich die belgischen Häfen nicht nur um eine engere Zusammenarbeit untereinander, sondern auch zwischen Belgien und den Niederlanden. Vor einigen Tagen wurde eine neue Sicherheitsplattform vorgestellt, über die die belgischen See- und Binnenhäfen und das Nationale Drogenkommissariat besser und schneller Informationen austauschen und gemeinsame Initiativen zur Verbesserung der Sicherheit auf den Weg bringen wollen. Das Projekt soll auch anderen EU-Staaten als Modell dienen.
Drogenkriminalität in den Häfen ist auch Gegenstand einer engeren Zusammenarbeit zwischen den belgischen und niederländischen Justizbehörden, die sich Mitte November getroffen haben. Die Kartelle reagierten schnell, wenn in einem Hafen der Fahndungsdruck steige und wichen auf einen anderen aus. Auch der grenzüberschreitende Einsatz immer jüngerer Drogenkuriere stelle die Justiz vor Probleme, da das Jugendstrafrecht unterschiedlich sei. Hier sei eine Angleichung notwendig – die aber nicht nur schwierig, sondern auch zeitaufwendig sein dürfte.
Als ein “Vorzeigeprojekt” gilt die Plattform PortWatch, über die verdächtige Vorfälle gerade im Drogenbereich anonym angezeigt werden können. Das Projekt wurde vom Internationalen Währungsfonds zusammen mit der Universität Oxford entwickelt und ist in Belgien seit dem Frühjahr 2024 aktiv. Konkrete Erkenntnisse darüber, wie erfolgreich die Maßnahme bisher war, sind nicht bekannt. In dem DLF-Beitrag wird berichtet, dass die Polizei auch die Mitarbeiter des Hafens und des Zolls in Antwerpen “screent”, dass man dabei aber “nicht übertreiben dürfe”, um nicht abschreckend auf die Beschäftigten zu wirken. Der interviewte Polizist sagte, die Hafenarbeiter seien eben “keine Engel”. Und die Zollbeamten im Hafen haben sich zuletzt über zu hohen Arbeitsdruck beschwert. Schließlich dürfe ein weiterer Gesichtspunkt nicht außer Acht gelassen werden: mehr Sicherheit bedeute auch höhere Kosten, die der Hafen angesichts des Konkurrenzdrucks etwa mit Rotterdam nach Möglichkeit vermeiden möchte.
Gegen die zunehmende Drogengewalt in den Städten setzt der föderale Innenminister, der frankophone Liberale Bernard Quintin (MR), unter anderem auf einen Einsatz des Militiärs zur Unterstützung der Polizei. Darauf hat er sich mit Verteidigungsminister Theo Francken von den flämischen Nationalisten (N-VA) dem Grunde nach geeinigt. Allerdings bedarf es dafür zuvor einer Regelung, ob Militärs etwa auch Festnahmen oder Durchsuchungen durchführen dürfen. Das dauert offenbar länger, so dass Quintins Ankündigung, das Vorhaben bis Jahresende umzusetzen, wohl nicht haltbar sein wird. Auch ohne diese Befugnisse sei aber allein die Präsenz des Militärs auf der Straße nach seiner Meinung schon ein sichtbares Symbol.
Sicher ist: die Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität und ihrer – auch internationalen – Strukturen ist eine Herkulesaufgabe. Das Regierungsprogramm der Arizona-Koalition widmet dem Thema mehrere Seiten (Seite 131ff.), auf denen vor allem von der Notwendigkeit einer besseren Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten verschiedener Dienste und Ebenen einschließlich der europäischen und internationaen Kooperation die Rede ist. Schnell wirksame Maßnahmen sind dabei eher selten. Aber es ist schon viel gewonnen, wenn man sich der dramatischen Situation bewusst ist, damit Belgien nicht zur einem “Narcostaat” wird. Und wie der Polizist im DLF-Interview sagt: “Dafür müssen wir täglich kämpfen.”







Beiträge und Meinungen