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Streit um offizielle Anerkennung Palästinas spaltet belgische Koalition

 Conner Rousseau © Vooruit
Georges-Louis Bouchez © MR

 

 

 

 

 

 

 

 

Von Michael Stabenow

Nach den aufreibenden Krisensitzungen der vergangenen Wochen möchte sich der belgische Premierminister Bart De Wever dieser Tage einige tausend Kilometer jenseits des Äquators etwas Erholung gönnen. Urlaubsstimmung dürfte in Südafrika für den flämischen Nationalisten angesichts der knallharten Debatte um die Haltung Belgiens zum Gaza-Konflikt nicht aufkommen – im Gegenteil. Die Frage nach der Anerkennung eines palästinensischen Staats ist zu einer Zerreißprobe für die erst seit Februar amtierende belgische Arizona-Koalition aus De Wevers Neu-Flämischer Allianz (N-VA), den flämischen Christdemokraten (CD&V) und Sozialisten (Vooruit) sowie den französischsprachigen Liberalen (MR) und der zentristischen Partei Les Engagés geworden.

Während N-VA und vor allem MR auch nach dem brutalen israelischen Vorgehen im Gaza-Streifen eine eher abwartende Haltung eingenommen haben, dringen die übrigen drei Koalitionspartner seit längerem auf einschneidende belgische Reaktionen. Unter dem Eindruck der Ankündigungen Frankreichs, Großbritanniens und anderer Länder zur Anerkennung eines palästinensischen Staats und dem sich immer wieder zuspitzenden menschlichen Elend im Gaza-Streifen hat auch De Wevers Partei den Ton gegenüber der israelischen Regierung verschärft. Einzige konkrete Reaktion Brüssels ist bisher die Absicht, über dem Krisengebiet Lebensmittel aus der Luft für die notleidende Bevölkerung abzuwerfen.

In den vergangenen Tagen hat sich der Streit innerhalb des Regierungslagers erheblich zugespitzt. Nach dem CD&V-Vorsitzenden Sammy Mahdi drohte auch Vooruit-Parteichef Conner Rousseau damit, die Regierungsarbeit zu blockieren. Er forderte, den Beispielen der Nachbarländer Frankreich, Großbritannien und der Niederlande zu folgen, den Assoziierungsvertrag der EU mit Israel einzufrieren und einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Dem Hörfunksender VRT sagte Rousseau: „Ich bin eine sehr loyale Person, aber wir müssen vor allem loyal zu unseren Grundprinzipien und zur Menschlichkeit stehen. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt wird die Regierung in eine Krise geraten, wenn wir keinen Ausweg finden.“

Während Außenminister Maxime Prévot (Les Engagés) meinte, eine Lösung des Streits innerhalb der Regierung könne noch bis September – nach der Sommerpause – warten, drängt Rousseau auf eine Lösung noch in diesem Monat. Dies, vor allem aber Rousseaus Gedankenspiele zu einer nicht auf alle Regierungsparteien, sondern Teile der Opposition gestützte parlamentarische Mehrheit brachte MR-Parteichef Georges-Louis Bouchez regelrecht auf die Palme. „Von einer alternativen Mehrheit kann nicht die Rede sein – die Regierung ist ein Block“, sagte Bouchez dem flämischen Fernsehsender VTM. Er warf Rousseau vor, sich nicht an die innerhalb der Regierung bei ihrem Amtsantritt vereinbarte Linie zu halten, die, bisher auch offizielle EU-Haltung, auf einer Zweistaaten-Lösung beruht.

Der mögliche Einfluss Belgiens auf die Entwicklung nannte Bouchez „geringfügig“ und warf Rousseau vor, ohne ihn beim Namen zu nennen, die Rolle des Generalsekretärs der Vereinten Nationen spielen zu wollen. Dann fügte er hinzu: „Der Beginn einer alternativen Mehrheit wäre das Ende einer Regierung – dass das klar ist!“. Unter Bouchez sind die französischsprachigen Liberalen wieder zu einem resolut israelfreundlichen Kurs zurückgekehrt. Wie sich die Positionen der Koalitionspartner – insbesondere die gegensätzlichen Auffassungen von Rousseau und Bouchez – weiter auf einen Regierungsnenner bringen lassen, ist derzeit unklar.

Als nächster Schritt zeichnet eine für Mitte des Monats angedachte Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses der Abgeordnetenkammer ab, an der Außenminister Prévot und andere Regierungsmitglieder teilnehmen sollen. Der Druck nimmt jedenfalls zu, dem Beispiel der britischen, französischen und niederländischen Nachbarn zu folgen und eine – möglicherweise an Bedingungen geknüpfte – Anerkennung eines palästinensischen Staats in Aussicht zu stellen.

Am Freitag besetzten Vertreter palästinafreundlicher Organisationen, aber auch von Gewerkschaften, symbolisch Parteibüros von Vooruit, CD&V und Les Engagés in Brüssel. Verbunden wurde die Protestaktion mit einem Aufruf zur umgehenden staatlichen Anerkennung Palästinas, einem Stopp von Waffenlieferungen an Israel oder auch einem Importverbot für Waren, die von israelischen Siedlern im Westjordanland hergestellt werden.

In einem von der Zeitung „De Standaard“ am Freitag veröffentlichten „Offenen Brief“ fordern 21 frühere, inzwischen aus dem aktiven Dienst ausgeschiedene belgische Diplomaten ebenfalls ein beherzteres Vorgehen der Regierung. Sie argumentieren, es sei ein „sinisteres Spiel“, wenn einerseits angeführt werde, die Anerkennung eines palästinensischen Staats sei noch verfrüht oder nicht opportun, während andererseits alle wüssten, dass Israel alles unternehme, eine funktionierende palästinensische Staatsstruktur zu verhindern. Das entschiedene Vorgehen belgischer Diplomaten nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 zeige, dass es anders gehe. „Aber wenn es um Gaza oder die palästinensische Frage geht, scheinen wir den moralischen Kompass verloren zu haben“, heißt es in dem Schreiben der Diplomaten.

Keine Frage – in der offiziellen Sommerpause herrscht rings um das belgische Parlament und den Regierung ungewohnte Betriebsamkeit. Ins Gespräch gebracht wurde der Gedanke, die Regierung zu einer Videokonferenz zusammenzurufen. Die Idee wurde aber offenbar mit Rücksicht auf den wohl auch auf einer Safari in Südafrika weilenden Premierminister verworfen. De Wever wird erst am 17. August in Brüssel zurückerwartet – nach der geplanten Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses. Sie dürfte daher vor allem dazu dienen, ein klareres Meinungsbild zu ermöglichen. Danach dürften jedoch die obersten Arizona-Koalitionäre wieder gefordert sein. Das alles kommt zu einem Zeitpunkt, da die Regierung sich eigentlich auf eine weitere Herausforderung konzentrieren muss – die unterschiedlichen Positionen der Parteien zur Sanierung der aus dem Ruder gelaufenen belgischen Staatsfinanzen unter einen Hut zu bringen.

 

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