Die Leute, Geschichte

Das Vermächtnis der Opfer der Nazi-Gewaltherrschaft

80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau halten belgische Nachfahren in der Deutschen Botschaft mahnend und versöhnlich die Erinnerung wach.

Von Michael Stabenow

Am 27. Januar jährt sich zum achtzigsten Mal der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Mehr als eine Million Menschen, überwiegend, aber nicht ausnahmslos jüdischen Glaubens, wurden dort von Schergen des nationalsozialistischen Deutschland ermordet. Ebenfalls am 27. Januar wird am internationalen Holocaust-Gedenktag das Schicksal von rund sechs Millionen jüdischen Menschen in Erinnerung gerufen, die während der Nazi-Schreckensherrschaft ums Leben gebracht wurden.

Acht Jahrzehnte später leben die meisten der Opfer, die 1945 aus den Lagern befreit werden konnten, nicht mehr. Ihre Stimmen sind inzwischen verstummt. In Zeiten, in denen auch in Europa fremdenfeindliche und antisemitische Vorurteile und Reflexe wieder um sich greifen, mangelt es nicht an Initiativen, sich gegen diese besorgniserregende Tendenz zu stellen.

Einen Beitrag dazu hat jetzt eine von der Deutschen Botschaft in Brüssel ausgerichtete Veranstaltung mit in Belgien aufgewachsenen Nachkommen von jüdischen Opfern der Nazi-Herrschaft geleistet. Sie stand unter dem Titel: „Das Vermächtnis der Shoah: Wie sich Erinnerungen durch die zweite und dritte Generation bewahren und weitergeben lassen.”

Erinnerungen bewahren und die richtigen Lehren daraus ziehen

Frédéric Crahay, Direktor der belgischen Auschwitz-Stiftung und Moderator der Veranstaltung in dem bis auf den letzten Platz gefüllten großen Sitzungssaal der Botschaft, sagte, es gelte nun, die Erinnerung an die Shoah weiter wachzuhalten. Wenn Zeitzeugen heute nicht mehr persönlich ihre Schicksale schildern könnten, seien andere gefordert, ihr Vermächtnis weiterzugeben. Wie ein roter Faden zog sich durch die Beiträge der sieben Nachkommen von jüdischen Verfolgten des Nazi-Regimes das Bestreben, nicht nur die Erinnerung an die Schrecken zu bewahren, sondern auch die richtigen Lehren weiterzugeben – im Geiste der Versöhnung.

Keine Chance für Hassgefühle beim Blick Auge in Auge

Benjamin Beeckmans, 1974 geboren und heute Vorsitzender des belgischen weltlichen jüdischen Zentrums CCLJ, formulierte es so: „Es gibt keinen Hass, der dem Blick Auge in Auge standhalten kann“. Es müsse darum gehen, Brücken zu bauen und sich die Hände zu reichen. Wie das möglich sei, hätten zum Beispiel auch der französische Präsident François Mitterrand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl 1984 als Vertreter von zwei lange verfeindeten Nationen gemeinsam auf dem einstigen Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs in Verdun eindrucksvoll bewiesen.

Das Andenken an die, „die nicht mehr da sind“, lebt fort

Unter den Nachkommen von Opfern der Gewaltherrschaft, so die übereinstimmende Erfahrung der Konferenzteilnehmer, habe das Bewusstsein mitgeschwungen, dass ihre Familien nicht vollständig seien. „Wir sind auf Asche, auf zerborstenem Glas aufgewachsen“, erläuterte Beeckmans. Seine Mutter Aviva Abelew, die jahrzehntelang als Mitarbeiterin des belgischen Hörfunksenders „Radio Judaica“ die Schicksale von Verfolgten des Nazi-Regimes thematisiert hat, erklärte, es habe „immer wieder Gespräche über diejenigen gegeben, die nicht mehr da sind“. Mehrere ihrer Vorfahren seien verschleppt und ermordet worden; ihre Eltern hätten die Shoah – traumatisiert – überlebt.

Wir werden uns eines Tages wiedersehen“

Einer der besonders bewegenden Augenblicke der Tagung kam, als Aviva Abelew aus einem Brief ihrer Tante Lili vorlas. Ihr war es Mitte August 1942 auf dem Abtransport per Bahn aus Mecheln in das Vernichtungslager in Auschwitz noch gelungen, ein kurzes Schreiben an ihren Freund zu verfassen und ins Freie zu schmuggeln. Auf wundersame Weise habe der Brief seinen Adressaten gefunden. „Lass Dich nicht durch die List der Deutschen reinlegen“, hieß es in dem Schreiben der jungen Frau, das mit den – nicht in Erfüllung gegangenen – Worten endete: „Wir werden uns eines Tages wiedersehen.“

Wenn jemand Dir die Hand reicht, ergreife sie“

Und welche Konsequenz zieht Aviva Abelew aus den bitteren Schicksalen ihrer Verwandten? Nein, bei aller fortwährenden Trauer keine Rachegefühle, sondern die Lehre: „Wenn jemand Dir die Hand reicht, so nimm sie. Was dies bedeutet, wird sich mit der Zeit zeigen“, sagte sie. Auch Charlotte Gutman, die gemeinsam mit ihren Schwestern Marianne und Simonne in der Deutschen Botschaft eindrucksvoll aus ihren Leben berichtete, zeigte sich versöhnlich. Sie warnte aber auch vor Naivität und gab zu bedenken: Zeichneten sich heute nicht viele derjenigen, die Feindbilder von Desinformation, Propaganda und Lügen anprangerten, letztlich ein – abschreckendes – Selbstbild?

Das Schicksal der drei Gutman-Schwestern steht stellvertretend für viele jüdische Familien. Die Mutter stammte aus Kiew, der Vater Leopold aus Berlin – einer von fünf Brüdern, die allesamt dem Widerstand gegen das Nazi-Regime angehörten. Als einziger kam Leopold mit dem Leben davon. Er ging später nach Belgien, wo die drei Schwestern geboren wurden und aufgewachsen sind.

Nach dem Fall der Mauer: Der Guthmann-Platz in Berlin

Obwohl eine der Schwestern bis zum heutigen Tage die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt – zur Heimat ihres Vaters hatte keine einzige eine enge Beziehung. Das änderte sich, als 2009, zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer, neue Bande entstanden. Großvater Otto, einst Betreiber einer Druckerei, hatte sich mit seiner Familie nach der Machtergreifung der Nazis im Stadtteil Mahlsdorf im Berliner Osten niederlassen müssen. Inzwischen gibt es dort im Andenken an den Großvater einen Guthmannplatz – gemäß der einst üblichen Schreibweise des Namens.

Dass Otto Guthmann einst sowohl Träger des Eisernen Kreuzes (als Weltkriegsteilnehmer) als auch des Davidsterns (als jüdischer Bürger) war, gehört zu einem Schicksalsweg, über den sich seine Enkelinnen bis zum heutigen Tage Gedanken machen. Heute sprechen sie relativ unbefangen über ihre Erfahrungen in der Familie, wollen aber auch eine gleichermaßen mahnende wie versöhnliche Botschaft weitergeben.

Ich habe mit der Muttermilch Angst aufgesogen“

Alle drei Schwestern berichteten aber auch über ihre Schwierigkeiten bei der Vergangenheitsbewältigung. Eine erzählte: „Ich habe mit der Muttermilch Angst aufgesogen.“ Von 40 Jahren psychologischer Behandlung war die Rede oder auch davon, so eine der Schwestern, dass sie in Anbetracht der Horrorgeschichten der damaligen Bahntransporte in die Vernichtungslager selbst davor zurückgeschreckt sei, einen Zug zu besteigen.

Nach dem Selbstmord des Sohns öffneten sich die Schleusen

Weitgehend tabu war offenbar lange Jahre die Vorgeschichte der Familie der Geschwister Michel und Irene Kichka, deren polnischstämmiger Vater Henri in Brüssel geboren wurde. Erst als der jüngste Sohn sich das Leben nahm, öffneten sich die Schleusen. Der Vater schrieb seine Lebenserinnerungen nieder, führte etliche Male Besuchergruppen nach Auschwitz.

Ich war ein glückliches Kind, da ich nichts von der Geschichte meines Vater gewusst habe“, berichtete der 1954 in Lüttich geborene Sohn Michel. Heute ist er ein erfolgreicher Autor von Karikaturen, Bildbänden und Literaturwerken, der inzwischen seit Jahrzehnten in Israel lebt. Er habe gewusst, so Kichka, dass sein Vater in verschiedene Lager verschleppt worden sei, die ganze Familie verloren habe und ihm, was er als Sohn aber erst später erfahren habe, damals eine Häftlingsnummer eintätowiert worden sei.

Ohne Erinnerungen gibt es keine Geschichte“

Auch Kichkas in Brüssel lebende Schwester Irène sagte: „Ich kannte nicht die Geschichte meiner eigenen Familie“. Das habe sich geändert, als Vater Henri zu reden und zu schreiben angefangen habe. Heute versuche sie, das Zeugnis ihres Vaters anderen Menschen zu vermitteln. „Ohne Erinnerungen gibt es keine Geschichte“, erläuterte sie. Es gelte, die Erfahrungen weiter zu vermitteln und die Zuhörer zum Nachdenken und Nachfraggen zu bewegen. „Dumme Fragen gibt es nicht, es gibt schlechte Antworten“, sagte Irène Kichka.

Tränen, die der Vater nicht selbst vergießen konnte

Ihr Bruder Michel erzählte: „Mein Vater war zufrieden, wenn die Zuhörer nach einem Vortrag in Tränen ausgebrochen sind.“ Es seien Tränen gewesen, die der Vater nicht selbst habe vergießen können, ergänzte seine Schwester. Und dennoch beziehen die Geschwister, daran ließen sie in der Deutschen Botschaft keinen Zweifel, aus ihren eigenen, oft leidvollen Erfahrungen Kraft und Zuversicht. Es gehe darum, die Vergangenheit zu begreifen und an einer besseren Zukunft zu bauen.

Und Deutschland?

Und Deutschland, in dem sich heute wieder mehr Geister der Vergangenheit zu rühren scheinen? „Ich spreche von den Nazis, nicht von DEN Deutschen. Mein Vater war nicht deutschfeindlich. Er hat sogar Geschäftsbeziehungen zu Deutschland“, sagte Henri Kichka.

Auffallend war, dass während der Brüsseler Veranstaltung zwar mehrfach Bezug auf die Losung „Nie wieder!“ genommen, aber nur wenig zur gegenwärtigen politischen Lage in Deutschland gesagt wurde. Botschafter Martin Kotthaus, Gastgeber der Veranstaltung, hatte jedoch in seinen einleitenden Worten den Bogen von damals zu heute geschlagen. Wohl nicht nur mit Blick auf Deutschland hatte er erklärt: „Wir müssen uns gegen Hass, Antisemitismus und jegliche Form von Rassismus stellen. Nicht wegschauen. Wir schauen hin und handeln!“

© Fotos: Deutsche Botschaft Brüssel

image00005
Aperture: 2
Camera: iPhone 11
Iso: 200
Orientation: 1
image00011
Aperture: 2
Camera: iPhone 11
Iso: 80
Orientation: 1
image00002
Aperture: 2
Camera: iPhone 11
Iso: 125
Orientation: 1
image00012
Aperture: 2
Camera: iPhone 11
Iso: 100
Orientation: 1
image00006
Aperture: 2
Camera: iPhone 11
Iso: 200
Orientation: 1
image00019
Aperture: 2
Camera: iPhone 11
Iso: 100
Orientation: 1
image00018
Aperture: 2
Camera: iPhone 11
Iso: 160
Orientation: 1

Leave a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.