Von Michael Stabenow
Knapp fünf Monate nach den Parlamentswahlen im vergangenen Juni ist in Belgien noch immer keine neue Regierung in Sicht. Bart De Wever, Parteichef der Neu-Flämischen Allianz (N-VA) und von König Philippe mit der Regierungsbildung betraut, hat jetzt das Staatsoberhaupt zum zweiten Mal nach Ende August gebeten, ihn von seiner Aufgabe zu entbinden. Abermals hat der König dieses Ansinnen abgelehnt und De Wever gebeten, zunächst bis Dienstag kommender Woche zu versuchen, den Boden für eine Lösung zu bereiten.
Eines erscheint gewiss: Die Chancen dafür, dass die sogenannte Arizona-Regierung aus N-VA, den flämischen Christdemokraten (CD&V), der französischsprachigen Zentrumspartei „Les Engagés“, den französischsprachigen Liberalen (MR) sowie den flämischen Sozialisten (Vooruit) Wirklichkeit wird, sind deutlich gesunken. Hatte im August MR-Chef Georges-Louis Bouchez die als Verhandlungsgrundlage gedachten Überlegungen De Wevers verworfen, so legte sich jetzt Vooruit-Chef Conner Rousseau quer. Während Bouchez damals mehr Rücksicht auf Vermögende gefordert hat, hält Rousseau im Gegensatz dazu De Wever jetzt vor, die „Superreichen“ und multinationale Konzerne schonen zu wollen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Rousseau jetzt eine Verhandlungsgrundlage ablehnt, die er im Sommer – Überlegungen in weitgehend identischer Form – akzeptiert hatte. Der Vooruit-Vorsitzende argumentiert nun jedoch, dass De Wever den Sozialisten nicht entgegengekommen sei und er deshalb das als rechtslastig empfundene Vorschlagspaket De Wevers nicht als Grundlage für weitere Gespräche akzeptieren könne.
Rousseau erhob in einem Gespräch mit dem flämischen Fernsehsender VRT harte Vorwürfe. Seine Partei sei bereit, Verantwortung zu übernehmen, sagte Rousseau, fügte dann aber hinzu: „wenn der Inhalt stimmt und die Lasten gerecht verteilt werden.“ Der Parteichef kritisierte insbesondere die Pläne De Wevers zur Begrenzung des klassischen Arbeitslosengeldes auf zwei Jahre sowie die geplanten Einschnitte beim System der Koppelung von Löhnen und Gehältern an die Inflationsrate. „Wir fühlen uns rausgedrängt. Die Verhältnisse stimmen nicht“, sagte Rousseau.
MR-Chef Bouchez hatte zuletzt noch Öl ins Feuer gegossen mit dem Vorwurf, Rousseau habe die anderen Verhandlungspartner „in die Irre geführt“. Der Vooruit-Chef behauptete gegenüber der VRT: „Hätten nur Bart De Wever und ich am Tisch gesessen, dann hätten wir längst eine Regierung.“ Es ist das seit mehreren Jahren bestehende Vertrauensverhältnis zwischen De Wever und Rousseau, auf dem die Hoffnungen beruhen, das in den vergangenen Wochen zerschlagene Porzellan in den Gesprächen über das „Arizona“-Bündnis doch noch zu kitten. Dass die N-VA und Vooruit in Antwerpen und anderen flämischen Städten Bündnisse eingegangen sind, könnte als Zeichen der Hoffnung gelten. Andererseits hat sich zuletzt in Gent, wo die Vooruit-Parteibasis mehrheitlich eine Koalition mit der N-VA verworfen hat, deutlich gezeigt, dass es unter den Sozialisten weiter erhebliche Vorbehalte gegen eine zu enge Allianz mit den flämischen Nationalisten gibt.
In belgischen Medien wird bereits über mögliche andere Bündnisse spekuliert. Politisch naheliegend erscheint die Option, die Sozialisten durch die flämischen Liberalen (Open VLD) zu ersetzen. Allerdings könnte sich die neue Regierung dann nur auf eine hauchdünne Mehrheit von 76 der 150 Parlamentssitze stützen. Zudem ist die Partei des derzeit noch geschäftsführenden Premierministers Alexander De Croo bei der Parlamentswahl im Juni dermaßen abgestraft worden, dass sich eine abermalige Regierungsteilnahme der seit einem Vierteljahrhundert als einziger Partei ununterbrochen an der Macht beteiligten flämischen Liberalen kaum vermitteln ließe.
Rein rechnerisch auf eine bequeme Mehrheit von 81 Sitzen käme ein Sechserbündnis aus Liberalen und Sozialisten beider Landesteile sowie aus CD&V und „Les Engagés“. Aber die französischsprachigen Sozialisten (PS), in der Region Wallonien durch ein Bündnis von MR und „Les Engagés“ nach den jüngsten Regionalwahlen aus der Regierungsverantwortung gedrängt, liegen auch im föderalen Parlament klar auf Oppositionskurs. Zudem wirkt das Verhältnis zwischen Bouchez und PS-Parteichef Paul Magnette inzwischen so zerrüttet, dass ein Bündnis zwischen beiden Parteien ausgeschlossen erscheint.
Noch bleibt De Wever eine Woche, die Möglichkeiten für eine Regierung unter seiner Führung auszuloten. Vielleicht erhält aber auch „Les Engagés“-Parteichef Maxime Prévot, der schon im Sommer die Wogen im „Arizona“-Lager glätten konnte, in der kommenden Woche eine zweite Chance. Nach wie vor liegt der Rekord für die Dauer der Regierungsbildung in Belgien bei 541 Tagen. Davon sind De Wever und die anderen belgischen Spitzenpolitiker noch weit entfernt. Aber in dieser Woche wird die Marke von 150 Tagen ohne eine voll handlungsfähige Regierung geknackt – und das in einer Zeit, in der nicht nur die Europäische Kommission wegen der aus dem Ruder laufenden Staatsfinanzen mit Argusaugen auf Belgien blickt.
English version: Arizona November 2024
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