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35 Jahre Mauerfall – eine sehenswerte Fotoausstellung im Presseclub Brüssel Europa

Von Reinhard Boest

Vor 35 Jahren, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer; kaum ein Jahr später war Deutschland wiedervereinigt. Seither sind in der ehemaligen DDR nicht überall blühende Landschaften entstanden. Aber wer heute durch kleine und große Städte in Ostdeutschland geht und die Bilder vergleicht mit dem, was man gerade wieder in den Fernsehdokumentationen über die Demonstrationen im Oktober 1989 sehen konnte, die das Ende des SED-Regimes einläuteten, erkennt die grundlegenden Veränderungen.

Zwei – westdeutsche – Fotografen, Ditmar Schädel aus Duisburg und Klaus Dierßen aus Hildesheim, haben diese Veränderungen zwischen 1989 und 1996 beobachtet und dokumentiert, dem Zeitraum also, als die Veränderungen besonders schnell und gravierend waren. Nach der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze fotografierten die beiden Künstler ausgewählte Schauplätze in der ehemaligen DDR, wobei es sich jeweils um Außenansichten von Gebäuden und Geschäftsfassaden handelt. Daraus entstand das Projekt „DANACH UND DANACH“. Bei regelmäßigen Besuchen an diesen Orten wurden die Veränderungen aus identischer Perspektive mit großformatigen Farbfotografien aufgenommen. Man sieht einen zum Teil gravierenden Wandel, manchmal ist die Veränderung aber nur an kleinen Details festzumachen. 

Ergänzend zu dieser äußeren Sicht stellen Dierßen und Schädel mit „Angesehen – in Ostdeutschland“ zwanzig Menschen aus den neuen Bundesländern in großformatigen Schwarz-Weiß-Fotos vor und zeigen diese exemplarisch in einem Portrait und mehreren Ansichten aus ihrer jeweiligen Lebens- und Arbeitsumgebung. Zu jedem Portrait gehört ein Gesprächsprotokoll, in dem die vorgestellte Person ihre eigene Sicht auf die Veränderungen erklärt.

Aus den Bildern sind nicht nur zwei – inzwischen leider vergriffene – Fotobände entstanden, sondern auch eine eindrucksvolle Ausstellung, aus der einige (leider zu wenige) Exponate jetzt in Brüssel zu sehen sind. Eröffnet wurde sie am 21. Oktober vom deutschen Botschafter Martin Kotthaus und der Leiterin und Europabeauftragten des Goethe-Instituts Dr. Elke Kaschl-Mohni im Presseclub Brüssel Europa. Dieser Treffpunkt von Journalisten aus vielen Ländern ist nicht zufällig gewählt, denn die deutsche Einigung war auch ein Meilenstein auf dem Weg zur europäischen Einheit.

Die Ausstellung ist eine Initiative der Deutschen Botschaft Brüssel im 35. Jahr des Mauerfalles in Kooperation mit dem Goethe-Institut und seinem Europanetzwerk Deutsch, das am 14. November im Goethe-Institut sein 30-jähriges Bestehen feiert.

In ihren Begrüßungsansprachen gingen Martin Kotthaus und Elke Kaschl-Mohni auf ihr persönliches Erleben in dieser historischen Epoche ein. Kotthaus erlebte sie als „wilde Zeit“, in der alles möglich schien. Die physischen Barrieren waren weg, heute sei oft kaum noch erkennbar, wo die Grenze einmal war. Aber das Zusammenwachsen sei ein noch immer andauernder Prozess. Heute, wo manche in Deutschland, Europa und darüber hinaus am liebsten innere und äußere Zäune wieder hochziehen würden, sollte man sich öfter an diese Zeit erinnern.

Für die in Trier aufgewachsene Kaschl-Mohni war die Mauer damals „maximal weit weg“. Als sie fiel, war der Optimismus schier grenzenlos. Heute herrsche in Ostdeutschland trotz objektiv guter Lage eine größere Skepsis, und viele Ostdeutsche fühlten sich nicht gehört. Selbst die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich verletzt gefühlt, als man sie als „nur angelernte“ Bundesbürgerin und Europäerin bezeichnet habe. Darum sei es wichtig, dass die Ausstellung Menschen aus Ostdeutschland eine Stimme gebe. Denn die „Wende“ habe diesen Menschen alles abverlangt: für sie waren die Veränderungen total, während für die Westdeutschen im Wesentlichen alles beim Alten blieb.

Im Künstlergespräch mit Katrin Schmidt vom Europanetzwerk Deutsch berichtete Ditmar Schädel ausführlich und mitreißend, wie er und sein – aus gesundheitlichen Gründen heute verhinderter – Partner Klaus Dierßen zu dem Projekt gekommen seien.

Eigentlich hätten sie stillgelegte Bahnstrecken in Niedersachsen dokumentieren wollen. Als er aber den Mauerfall im Harz mit der Invasion von Trabis erlebt habe, sei für ihn und Dierßen klar gewesen, dass es stattdessen eine einmalige Chance sei, die absehbaren Veränderungen in der DDR im Bild festzuhalten. Beide kannten die DDR vorher nicht.

Die Auswahl der Orte sei eher zufällig gewesen; außer in Berlin seien die Fotos überwiegend in kleineren Städten wie Quedlinburg, Sangerhausen, Senftenberg oder Zarrentin entstanden, und zwar im Zeitraum unmittelbar nach dem Mauerfall bis etwa 1996.

Mit der Gegenüberstellung der Bilder sollten nicht nur äußerlich sichtbare Änderungen erkennbar, sondern auch innere Befindlichkeiten angedeutet werden, die sich aus der zeitlichen Distanz der Bilder ablesen lassen. Es gehe um das beharrliche, geduldige und langjährige Beobachten einer grundlegenden Veränderung: Typische Kennzeichen einer vergangenen Zeit verschwinden und werden von neuen Gestaltungsformen abgelöst. Die Fotografien wollten weder als Werbung für den Aufschwung Ost noch als pittoreske Bilder voller Nostalgie und Morbidität verstanden werden.

Für die persönlichen Portraits habe man sich viel Zeit gelassen. Der Zugang sei anfangs nicht einfach gewesen. Dass sie „Wessis“ gewesen seien, hätten sie aber nicht als Hindernis empfunden. Nach anfänglicher Skepsis habe man sie als Gesprächspartner akzeptiert, nachdem klar war, dass sie es weder auf ein Geschäft noch auf ein „schnelles Bild“ abgesehen hätten. Die Gespräche seien dann sehr offen und vielfach sehr spannend gewesen, manchmal lustig, manchmal ernst, aber immer geprägt von den persönlichen Betroffenheiten.

Die Bilder zeigen die Menschen in ihrer Arbeitsumgebung. Vertreten ist ein breites Feld von Berufen, vom Bestatter über einen Tankstellenbetreiber, einen Friseur, einen Hundesalon bis zur Kassenfrau im städtischen Schwimmbad. In den dazugehörigen Texten sprechen sie mit eigenen Worten über ihre biografischen Hintergründe, die aktuelle geschäftliche und persönliche Situation, die Einschätzung der Veränderungen in den letzten Jahren. So sei eine vielschichtige und differenzierte Studie entstanden, über Hoffnungen, Erfolge und Enttäuschungen. Das Einzigartige an dieser Zeit sei gewesen, dass sich so viel so schnell geändert habe, oft ohne dass es von Dauer sei. Das sei eine typisch ostdeutsche Erfahrung, die man den Westdeutschen voraus habe, und die vielleicht noch immer wirke.

Die großen Umwälzungen und gesellschaftspolitischen Veränderungen sind ebenso im Alltäglichen und Persönlichen ablesbar“, fasste Dietmar Schädel die Zielsetzung seines Projekts zusammen. Und genau das vermitteln die Fotos und die dokumentierten Texte und regen zum Nachdenken an.

Das Publikum – darunter viele aktuelle und ehemalige Deutschschüler des Europanetzwerks – dankte mit anhaltendem Beifall und hatte anschließend bei einem Imbiss Gelegenheit zu angeregten Gesprächen.

Eine wirklich sehenswerte Ausstellung!

Die Ausstellung „35 Jahre Mauerfall – Fotografische Langzeitbeobachtungen“ ist vom 22. Oktober bis 29. November 2024 jeweils von Montag bis Freitag zwischen 9 und 18 Uhr im Press Club Brussels Europe, Rue Froissart 95 (Nähe Schuman) zu sehen. Während Press-Club-Veranstaltungen ist sie nicht zugänglich (siehe Eventkalender des Press Club Brussels Europe).

Am 4. November 2024 veranstaltet die Deutsche Botschaft einen Historikerdialog zum Thema “35 Jahre Mauerfall”.

© Fotos: Deutsche Botschaft Brüssel – Dietmar Schädel – Wolfgang Weiss

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Author: Wolfgang Weiss

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One Comment

  1. Ilse Leckert

    Nun, diese Ausstellung werde ich mir mit Genuss ansehen und wohl auch einiges dazu sagen können. Ich kenne Leipzig als 8jährige. Nur der Zoo war schon damals toll und sehens- und besuchenswert. Die Stadt: HORROR! Heute ein Traum und absolut lebenswert. Erfurt war ein schwarzes Loch dank Kohleheizung wie auch meine Heimatstadt Greiz. Heute eine der schönsten Städte der neuen Bundesländer. Aber wie schön, dass 2 Wessis eine Bestandsaufnahme hinbekommen haben.

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