Von Michael Stabenow
Am Tag nach den Parlamentswahlen gibt es viele vermeintliche oder tatsächliche Gewinner und Verlierer. Als eindeutige Verlierer stehen die Meinungsforscher da. Sie haben weder in Flandern die gemäßigtere flämisch-nationalistische N-VA vor dem rechtsradikalen Vlaams Belang noch den in diesem Ausmaß unerwarteten Rechtsruck im traditionell „roten“ Wallonien vorhergesehen – Ergebnisse in Zahlen [1] | Wahl 2024 (belgium.be) . Wie geht es aber nun auf föderaler Ebene und in den Regionen weiter?
1. Auf föderaler Ebene: N-VA wird unumgänglich
Auf dem Papier gibt es für die sieben Parteien der seit Herbst 2020 amtierenden „Vivaldi“-Koalition mit 76 statt bisher 87 von 150 Sitzen rein rechnerisch nach wie vor eine knappe Mehrheit. Dennoch bestehen keine Zweifel daran, dass diese ungewöhnliche politische Konstellation ausgedient hat.
Naheliegend erscheint daher ein Bündnis unter Führung der N-VA, die einen ihrer bisher 21 Sitze eingebüßt hat, aber im Gegensatz zu sämtlichen Umfragen der vergangenen Zeit den lange führenden Vlaams Belang (20 statt bisher 18 Sitze) im Endspurt des Wahlkampfs noch überflügelt hat. Als „natürliche“ Bündnispartner, mit denen es wirtschafts- und gesellschaftspolitisch viele Schnittmengen gibt, bieten sich an: die Liberalen (Open VLD in Flandern, die Partei von Regierungschef Alexander De Croo) mit nur noch sieben statt zwölf Sitzen, der von 14 auf 20 Mandate erstarkte MR im französischsprachigen Landesteil sowie die flämischen Christlichen Demokraten (CD&V, 11 statt bisher 12 Mandate) und die nach einer langen Durststrecke spektakulär von fünf auf 14 Mandate erstarkte frankophone Schwesterpartei Les Engagés an.
Die fünf Parteien kommen gemeinsam lediglich auf 72 Sitze. Es gibt darüber hinaus zwei Haken an dieser Konstruktion: erstens haben die abgestraften flämischen Liberalen durch ihren inzwischen zurückgetretenen Parteichef Tom Ongena erklären lassen, dass für sie der Gang in die Opposition die logische Konsequenz ihres Abschneidens sei. Vor allem aber verfehlen N-VA, CD&V und Open VLD mit insgesamt 42 Sitzen die Mehrheit unter den 87 oder 88 niederländischsprachigen Abgeordneten. Die N-VA hatte aber stets gefordert, dass es für eine föderale Regierung eine parlamentarische Mehrheit im Norden des Landes geben müsse.
Daher gerät eine „asymmetrische“ Koalition unter Einschluss der von neun auf 13 Mandate erstarkten flämischen Sozialistischen (Vooruit) und ohne Open VLD ins Blickfeld – mit insgesamt 82 von 150 Sitzen. Mit 48 flämischen Abgeordneten würde es dann auch auf niederländischsprachiger Seite für eine Mehrheit reichen.
Die Vooruit-Spitze hat zwar erkennen lassen, dass sie eine Zusammenarbeit mit der N-VA nicht ausschließe. Zugleich aber hat sie klargestellt, dass für sie ein Einstieg in eine nach rechts tendierende Koalition inhaltlich einen hohen Preis habe. De Wever möchte am liebsten mit einem „Mini-Kabinett“ zunächst die haushaltspolitischen Probleme des Landes angehen und in einem zweiten Schritt den Boden für eine weitere Staatsreform zugunsten der Regionen bereiten. Die Parteichefs von MR, Georges-Louis Bouchez, und von Les Engagés, Maxime Prévot, haben sich zwar aufgeschlossen für mehr Eigenverantwortung – nicht zuletzt bei der Arbeitsmarktpolitik – gezeigt; eine weitere „echte“ Staatsreform, für welche die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Parlament ohnehin nicht in Sicht ist, lehnen sie indes kategorisch ab.
All dies zeigt, dass die föderale Regierungsbildung in Belgien abermals äußerst knifflig verlaufen dürfte. Zunächst dürfte König Philippe einen mit einem Sondierungsauftrag betrauten „Informateur“ benennen. Am Montagnachmittag empfängt das Staatsoberhaupt zu getrennten Gesprächen De Wever, den Vlaams Belang-Vorsitzenden Tom Van Grieken sowie MR-Parteichef Bouchez.
2. Neuordnung in den Regionen
Flämische Region
Im 124 Mitglieder zählenden flämischen Regionalparlament zeichnet sich ein über insgesamt 65 Mandate verfügendes Bündnis aus N-VA (31 statt bisher 35 Sitze), Vooruit (18 statt 12 Sitze) sowie CD&V (16 statt 19 Sitze) ab. Die bisher mit N-VA und CD&V mitregierenden Liberalen (neun statt 16 Sitze) dürften sich auf den Oppositionsbänken wiederfinden. Ministerpräsident Jan Jambon ließ zwar die Bereitschaft erkennen, weiter die flämische Regierung zu führen, wollte sich im Rundfunksender VRT aber darauf nicht festlegen – offenbar mit Rücksicht auf die gelegentlich überraschende Personalpolitik des Parteichefs De Wever.
Wallonische Region
Im traditionell von den Sozialisten (PS) beherrschten Wallonien steht ein politischer Umbruch bevor. Im 75 Sitze zählenden Regionalparlament in Namur kommen MR (26 statt 20 Sitze) und Les Engagés (17 statt 10 Sitze gemeinsam auf eine komfortable Mehrheit von 43 Mandaten. Nicht nur die PS (19 statt 23 Mandate), sondern überraschenderweise auch die in Umfragen zuletzt sehr gut dastehende linkspopulistische PTB (sechs statt acht Mandate) gehören zu den Verlierern. Am härtesten hat es die wallonischen Grünen (fünf statt 12 Sitze) erwischt. Ihr Spitzenmann Jean-Marc Nollet, der seinen Sitz im föderalen Parlament verloren hat, kündigte nach der Wahl seinen politischen Rückzug an. Als Favorit auf die Nachfolge des ins Europäische Parlament wechselnden und im Juli 73 Jahre alt werden sozialistischen Ministerpräsidenten Elio Di Rupo gilt MR-Chef Bouchez. Im Rundfunksender RTBF bekräftigte er am Montag indirekt seinen Anspruch auf das Amt.
Hauptstadtregion Brüssel
Im 89 Mitglieder – davon 72 auf französisch- und 17 auf niederländischsprachigen Listen gewählt – zählenden Brüsseler Regionalparlament ist die Situation unübersichtlicher. Auch in der Hauptstadt konnte die dort zuletzt schwächelnde MR stark – von 13 auf 20 Mandate – zulegen. Die Verluste der den scheidenden Ministerpräsidenten Rudi Vervoot stellenden und zuletzt reichlich zerstrittenen PS (16 statt 17 Mandate) halten sich jedoch in Grenzen. Auch wenn MR-Spitzenkandidat David Leisterh Favorit für die Vervoort-Nachfolge ist, könnten sich die Sozialisten als unumgänglicher Koalitionspartner erweisen.
Da in der Regierung auch die flämischen Parteien mehrheitlich vertreten sein müssen und die Grünen von Mobilitätsministerin Elke van den Brandt unverändert vier Sitze, aber einem auf 22,7 Prozent angestiegenen Anteil an den „flämischen“ Stimmen aufweisen können, dürfte kein Weg an ihrer abermaligen Regierungsbeteiligung vorbeiführen. „Knackpunkt“ dürfte dabei der umstrittene Mobilitätsplan „Good Move“ sein, den Leisterh für mausetot erklärt hat, Van den Brandt aber keineswegs aufgeben will.
Deutschsprachige Gemeinschaft
In Ostbelgien dürfte es mit der Regierungsbildung auch nach den jüngsten Wahlen am schnellsten gehen. Der seit einem Jahrzehnt amtierende Ministerpräsident Oliver Paasch von der autonomistischen Partei ProDG ist deutlicher Wahlsieger und kann sich seine Koalitionspartner aussuchen. Pro DG verfügt im 25 Mitglieder zählenden Regionalparlament in Eupen über acht statt sechs Sitze. Die bisher regierende Koalition aus ProDG, Sozialdemokraten (SP, drei statt vier Mandate) sowie Liberalen (PFF, unverändert drei Mandate) könnte sich künftig auf 14 statt 13 Mandate stützen. Denkbar wäre auch eine Koalition mit den Christdemokraten (CSP); allerdings musste die einst in Ostbelgien vorherrschende Partei ein weiteres ihrer zuletzt sechs Mandate abgeben. Ministerpräsident Paasch sagte in einer Wahlsendung des Belgischen Rundfunks (BRF), dass er zunächst Gespräche mit der CSP führen wolle, was aber nicht ausschließe, dass noch ein dritter Koalitionspartner hinzukommen könne.
3. Wenig Veränderung im Europäischen Parlament
Bei der Wahl der 22 belgischen Europaabgeordneten gab es einige Abweichungen von den föderalen und regionalen Wahlergebnissen, auch wenn die Mandatsverteilung weitgehend unverändert blieb. Auffallend ist, dass Vlaams Belang mehr Stimmen als die N-VA erzielte. Beide Parteien kommen aber unverändert auf je drei Sitze. Die französischsprachigen Grünen (Ecolo) und die flämischen Liberalen mussten jeweils eines ihrer beiden Mandate abgeben. MR gewann einen dritten Sitz, Vooruit einen zweiten Sitz hinzu, während PS und CD&V unverändert auf jeweils zwei Mandate kommen. Groen, Les Engagés und ihre deutschsprachige Schwesterpartei CSP, deren Kandidat Pascal Arimont sich mit dem in Ostbelgien geltenden Mehrheitswahlrecht ein weiteres Mal durchsetzte, kommen weiter jeweils auf einen Sitz.
Für die PFF muss es heissen: unverändert 3 Mandate