Von Reinhard Boest
Ist der Rechtsstaat in der Europäischen Union in Gefahr? In einigen Mitgliedstaaten wie Ungarn oder der Slowakei gibt es schon länger Entwicklungen, die zunehmend Sorgen machen. Es geht dabei nicht nur um den Zugang zur und die die Unabhängigkeit der Justiz, die Achtung von Minderheitenrechten oder die Freiheit der Medien, sondern auch um Korruption, nicht zuletzt beim Umgang mit EU-Geldern. In Polen zeigt sich gerade, wie schwierig es ist, auf den “rechten Weg” zurückzufinden, wenn der von der Vorgängerregierung betriebene Umbau (oder Abbau?) des Justizwesens schon weit fortgeschritten ist.
Die Niedersächsischen Landesvertretung in Brüssel organisierte dazu jetzt eine sehr gut besuchte Mittagsveranstaltung mit dem Titel “Rechtsstaatlichkeit in der EU, quo vadis?”. Unter der Moderation des FAZ-Korrespondenten Thomas Gutschker hatte sich ein prominent besetztes Podium eingefunden: der noch amtierende, für Justiz zuständige belgische Kommissar Didier Reynders und die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments (und frühere deutsche Justizministerin) Katarina Barley; außerdem nahmen Fryderyk Zoll, Professor an den Universitäten Krakau und Osnabrück und Almut Möller vom Brüsseler Think Tank European Policy Centre EPC (und frühere Staatsrätin für Europa in Hamburg) teil.
Die Europäische Union verfügt über mehrere, mehr oder weniger effiziente Instrumente, um diesen Problemen zu begegnen. Diese reichen von einem Monitoring der Situation in den Mitgliedstaaten über Verfahren bei konkreten Verstößen gegen EU-Recht, die Streichung von EU-Mitteln bis zum Entzug von Stimmrechten.
Seit 2020 legt die Europäischen Kommission einen jährlichen “Bericht über die Rechtsstaatlichkeit” vor, der die Situation in allen Mitgliedstaaten analysiert und seit 2022 auch konkrete Maßnahmen empfiehlt, wo Defizite oder Mißstände gesehen werden. Mit diesem EU-weiten Ansatz sollte der Kritik begegnet werden, dass nur bestimmte Mtgliedstaaten “an den Pranger” gestellt würden (also insbesondere Ungarn und Polen).
Die Ausgabe 2024 ist im Juli erschienen. Die Kommission sieht in dem Bericht inzwischen ein wirksames Instrument; so seien zwei Drittel der Empfehlungen aus dem Jahr 2023 vollständig oder teilweise umgesetzt worden. In einigen Mitgliedstaaten sieht sie jedoch weiter systemische Bedenken, die Lage habe sich weiter verschlechtert.
Wohin geht also die Rechtsstatlichkeit in Europa? Die Antwort ist – wen wundert es? – differenziert. Reynders nahm für seine Amtszeit in Anspruch, dass man endlich in die Phase konkreter Handlungen eingetreten sei; vorher sei über die “Rule of Law” vor allem geredet worden. Anknüpfend an den Bericht hob er hervor, dass der Dialog mit den Mitgliedstaaten ein wichtiges Element sei, für Defizite zu sensibilisieren und konkrete Maßnahmen auf den Weg zu bringen.
Die SPD-Politikerin Barley warnte davor, mit den Berichten den Eindruck zu erwecken, als seien die Versäumnisse, die es zweifellos in allen Mitgliedstaaten gebe, gleich bedeutend. Es müsse klar sein, dass Ungarn unter Regierungschef Viktor Orban ein unvergleichlicher Ausnahmefall sei, den man auch so behandeln müsse. Und man müsse verhindern, dass seine destruktive Haltung sich auch auf der EU-Ebene durchsetze. Ihre Kritik, dass man Orban die Zustimmung zu den Ukrainehilfen mit der teilweisen Freigabe von gesperrten Geldern abgekauft habe, widersprach Reynders; es sei weiterhin kein Geld geflossen, da die Bedingungen nicht erfüllt seien. Das größte Problem in Ungarn sei allerdings nicht die Justiz, sondern vor allem die Korruption.
Der Jura-Professor Zoll beschrieb eindrücklich die schwierige Situation, in der man sich in Polen gerade befinde. Acht Jahre “Destruktion” des Justizwesens unter der PiS-Regierung könne der jetzige Regierungschef Donald Tusk nicht in einem Jahr reparieren – zudem mit einem weiter amtierenden Staatspräsidenten von der PiS. Derzeit habe man es zum Teil mit einem juristischen Vakuum zu tun, etwa mit einem “illegitimen”, von der PiS eingsetzten Verfassungsgericht. Die Einstellung des Verfahrens gegen Polen nach Artikel 7 des EU-Vertrags (Entziehung des Stimmrechts) sei daher (noch) nicht durch eine volle Wiederherstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse gerechtfertigt, sondern sei ein Bonus auf die Anstrengungen, die man in diese Richtung unternehme.
Almut Möller vom EPC wies auf den Imageschaden hin, den die EU durch rechtsstaatliche Defizite nicht nur nach innen, sondern auch nach außen erleide. Kritikern der EU, gerade aus autokratischen Staaten, dürfe man es nicht so leicht machen.
Es war absehbar, dass es in der Debatte vor allem um Polen und Ungarn gehen würde. Reynders legte aber Wert darauf, dass die Länderberichte wichtige Aspekte und Anregungen für alle Mitgliedstaaten enthielten. Konkret nannte er nur Beispiele aus Deutschland (die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften und die Auswahlverfahren für Richter) – Belgien wurde nicht erwähnt. Ein Blick in den Länderbericht Belgien zeigt, dass die Kommission vor allem Handlungsbedarf bei der strukturellen Unterfinanzierung der Justiz, der Länge der Verfahren, aber auch bei Transparenzregeln und dem Zugang zu Dokumenten sieht. Ausdrücklich wird die mehrfache Nichtbefolgung von Entscheidungen belgischer und europäischer Gerichte beanstandet.
Die Kommission sieht in der regelmäßigen Berichterstattung auch ein Frühwarninstrument für Entwicklungen in den Mitgliedstaaten. Was die Sanktionierung von Verstößen angeht, setzt Reynders auf eine Ausdehnung der bisher vor allem in der Kohäsionspolitik praktizierten Bindung von EU-Hilfen an bestimmte Standards (Konditionalität). Das dürfte allerdings kein Selbstläufer sein.
Einig waren sich alle Teilnehmer, dass Rechtsstaatlichkeit ein Grundpfeiler der europäischen Integration sei und bleiben müsse. Das scheint – bei allen mehr oder weniger bedeutenden Unzulänglichkeiten – in den meisten Mitgliedstaaten akzeptiert. Nach Ungarn zeichnet sich aber derzeit auch in der Slowakei durch geplante Einschränkungen beim öffentlichrechtlichen Rundfunk und der Korruptionsstaatsanwaltschaft eine kritische Entwicklung ab.
Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft – sie ist davon abhängig, dass die Mitgliedstaaten sich an die Regeln halten, die sie sich selbst gegeben haben. In letzter Zeit ist vermehrt zu beobachten, dass Mitgliedstaaten geltendes EU-Recht in Frage stellen, wenn sie innenpolitisch unter Druck geraten.
Damit wird auch das Vertrauen der EU-Bürger untergraben, dass die Regeln angewandt werden müssen und dass sie notfalls vor unabhängigen Gerichten deren Einhaltung einklagen können. Insofern ist auch das Funktionieren des Binnenmarktes und damit einer wesentlichen Quelle des in der EU erreichten Wohlstands von rechtsstaatlichen Garantien abhängig.
Am Ende der angeregten Debatte auf dem Podium blieb – wie leider zu oft – kaum Zeit für einen Austausch mit dem Publikum. Dennoch ist der Niedersächsischen Landesvertretung zu danken, dass sie dieses wichtige Thema aufgegriffen hat.
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