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Nach den Kommunalwahlen: Kehrtwende in der Brüsseler Verkehrspolitik

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Von Reinhard Boest

Schon am Abend der Regionalwahl in Brüssel am 9. Juni zeichnete es sich ab, und die Ergebnisse der Kommunalwahl in den 19 Brüsseler Gemeinden haben es bestätigt: Die heftigen Verluste vor allem der frankophonen Grünen (Ecolo) sind zu einem wesentlichen Teil eine Abstrafung für den Mobilitätsplan “Good Move”, mit dem Brüssel bis 2030 der Verkehr sicherer, die Luft sauberer und die Lebensqualität für die Bewohner besser werden soll (Belgieninfo hat regelmäßig berichtet, zuletzt https://belgieninfo.net/good-move-bruessel-was-bleibt-davon-nach-der-wahl/). Der Plan wird vor allem mit der regionalen Verkehrsministerin Elke Van den Brandt von den niederländischsprachigen Grünen (Groen) in Verbindung gebracht, deren Verluste trotzdem deutlich milder ausfielen als bei Ecolo.

Vor allem die Liberalen vom MR haben das Thema in das Zentrum ihres Wahlkampfs gestellt und hatten damit offenbar Erfolg. Der allgegenwärtige MR-Parteichef Georges-Louis Bouchez warf den Grünen vor, aus ideologischen Gründen an ihrer Verkehrspolitik festzuhalten. Aber auch die Sozialisten (PS), die das Projekt in der Brüsseler Regionalregierung (und etwa in den Gemeinden Brüssel-Stadt oder Ixelles) mitgetragen haben, gingen auf Distanz.

Auch wenn die Bildung neuer Mehrheiten in einigen Gemeinden noch im Fluss ist, besteht kein Zweifel, dass die Partei Ecolo alle drei Bürgermeisterposten verlieren wird, die sie seit 2018 innehatte: Ixelles, Watermael-Boitsfort und Forest.

Schon am Abend der Wahl bildeten sich in wichtigen Brüsseler Gemeinden neue Mehrheiten, in denen anders als bisher die Grünen nicht mehr vertreten sind. Dazu gehören insbesondere Brüssel-Stadt, Anderlecht und Ixelles (obwohl dort die Liste des Ecolo-Bürgermeisters Christos Doulkeridis die meisten Stimmen erhalten hat). In Saint-Gilles und Watermael-Boitsfort, vielleicht auch in Uccle und Forest, bleiben sie in der Regierung, allerdings nur noch als Junior-Partner (von PS oder MR).

Welche Auswirkungen wird das auf die Verkehrspolitik in Brüssel haben? Einen Vorgeschmack gab es schon: Obwohl es vier Monate nach der Wahl noch immer keine neue Regionalregierung gibt, haben die wahrscheinlichen künftigen Koalitionspartner am 4. Oktober ein wichtiges Element des Plans auf Eis gelegt: die Verschärfung des Grenzwerte für Autos, die in der Stadt fahren dürfen (LEZ, Low Emission Zones). Mit ihrer Mehrheit im Parlament haben sie den Termin von Anfang 2025 auf vorerst Anfang 2027 verschoben. Dieselfahrzeuge der Klasse Euro 5 und Euro 2-Benziner erhalten also eine Gnadenfrist von (weiteren) zwei Jahren; das betrifft in Brüssel etwa 35.000 Pkw und 8.500 leichte Nutzfahrzeuge, aber darüber hinaus 635.000 Pkw und 155.000 Nutzfahrzeuge in ganz Belgien. Begründet wird diese Entscheidung mit sozialen Aspekten: gerade Bevölkerungsgruppen mit geringen Einkünften wären betroffen, da sie sich kein neues Auto leisten könnten. Dafür nimmt man in Kauf, die angestrebte Reduzierung der CO2- und NOx-Emissionen zu verfehlen. Brüssel wird noch mehr Mühe haben, die selbstgesetzten Ziele bei Klimaschutz und Luftreinhaltung zu erreichen. Aber man ist in guter Gesellschaft: auch in Gent und Antwerpen, wo es schon LEZ gibt, wird die nächste Stufe um zwei Jahre verschoben; und in der Wallonie wird es zwei weitere Jahre dauern, bevor überhaupt LEZ in den großen Städten eingeführt werden.

Als nächstes Element von „Good Move“ wird es die verkehrsberuhigten Zonen treffen. Gegen deren Einrichtung hatte es 2022 in Anderlecht und Schaerbeek zum Teil gewalttätigen Widerstand gegeben. Inzwischen sind die Pläne in den meisten anderen Gemeinden auf Eis gelegt worden. Der MR will diesen Ansatz zur Verkehrsberuhigung endgültig beerdigen. „Die Methode ‚Good Move‘ ist überholt. Man muss die Mobilität anders angehen, mit Konzertierung und Pragmatismus statt mit Ideologie“, zitiert die Tageszeitung „Le Soir“ den MR-Politiker Gaëtan Van Goitsenhoven, der demnächst in einer Koalition mit dem PS-Bürgermeister Fabrice Cumbs in Anderlecht mitregieren wird. In Ixelles, wo der MR künftig den Verkehrsschöffen stellen wird, steht selbst die reduzierte Zone “Flagey/Teiche von Ixelles” zur Disposition. In der größten verkehrsberuhigten Zone, der Brüsseler Innenstadt innerhalb des „Pentagon“, wollen MR und Les Engagés als Partner in der neuen Gemeinderatsmehrheit wieder mehr Durchgangsverkehr ermöglichen. Mit welchem „pragmatischen“ Ansatz man arbeiten will, bleibt bisher offen.

Bedeutet der in den Wahlergebnissen zum Ausdruck gekommene Mainstream ein „zurück zum Auto“? Das könnte dann auch die Brüssel-weite Einführung von Tempo 30 (seit 2021) und die erhebliche Ausweitung von Radwegen treffen. Auch wenn man den Eindruck hat, dass Tempo 30 von vielen eher als Empfehlung gesehen wird, lässt sich doch feststellen, dass Autos langsamer fahren als früher. Das hatte auch positive Auswirkungen auf Zahl und Schwere von Unfällen im Straßenverkehr.

Nur noch etwas mehr als die Hälfte der Brüsseler Haushalte hat überhaupt noch ein Auto. Das im Allgemeinen gut funktionierende Nahverkehrssystem sehen viele offenbar als Alternative, ergänzt um Angebote wie Carsharing oder die Nutzung des Fahrrades. Beim Ausbau des Nahverkehrs bleibt der künftigen Regionalregierung – und wahrscheinlich noch weiteren – das Mammutprojekt „Metro 3“ nicht erspart. MR und Les Engagés sind wie PS bisher für die Fertigstellung der Linie bis Bordet. Allerdings wird es interessant sein zu beobachten, wie gerade der auf Einsparungen erpichte MR mit der Finanzierung der kaum noch überschaubaren Kosten umgehen wird.

Aber zunächst müssen sich die neuen Mehrheiten finden. Auf der regionalen Ebene sind die Grünen noch nicht ganz aus dem Spiel. Denn im Brüsseler Parlament ist Groen innerhalb des niederländischsprachigen Kollegiums, mit der die französischsprachige Mehrheit eine Einigung finden muss, die stärkste Gruppe (siehe (https://belgieninfo.net/regierung-in-bruessel-noch-lange-nicht/). Es ist also noch einiges in Bewegung.

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