Von Michael Stabenow.
Stefan Hertmans zählt zu den festen Größen der flämischen Literatur. Mit dem 2013 veröffentlichten und unter dem Titel „Der Himmel meines Großvaters“ auf Deutsch übersetzten Roman hat Hertmans, der Ende März 70 Jahre alt wurde, weit über Belgien hinaus Beachtung gefunden. Auch in seinem jüngsten Roman „De Opgang“ (Der Aufgang), der neue und deprimierende Einblicke in das heikle Thema der Kollaboration bietet, bündelt er eigene historische Recherchen mit literarischer Freiheit zu einem beeindruckenden Werk.
28 Jahre alt ist Hertmans, als er 1979 in Gent eine heruntergekommene Immobilie erwirbt. „Ich habe immer eine Schwäche für den Geruch von Feuchtigkeit und Verfall in alten Häusern gehabt“, schreibt er später dazu. Als Hertmans 1999 das Haus verkauft, war für ihn eine zuvor dumpfe Vorahnung zur Gewissheit geworden: dass in dem Haus einst der flämische Kollaborateur Willem („Wim“) Verhulst mit seiner niederländischen, ihr Leben lang calvinistisch geprägten Frau Harmina („Mientje“) und ihren Kindern Adriaan („Adri“), Aletta („Letta“) sowie Suzanne („Suzy“) gewohnt haben.
Hertmans erinnert sich in seinem Roman daran, wie ihn 1979 der damalige Eigentümer, ein Notar, bei der Besichtigung des Hauses beiläufig eine einst dort aufgestellte Adolf-Hitler-Büste erwähnt habe. Es hätten „keine schlechten Menschen“ dort gewohnt – bis auf den Vater, „eigentlich auch kein schlechter Mensch, aber verirrt, verfranzt, verblendet, mehr kann man es nicht nennen“. Rückblickend macht sich Hertmans noch Vorwürfe und bekennt: „Es ist mir unbegreiflich, dass alles, was ich damals schon hätte wissen müssen, so gnadenlos an mir vorbeiziehen konnte.“ Doch er wolle keine Geschichte eines SS-Manns aufschreiben, für die es schon genügend Beispiele gebe. Vielmehr sei es ihm um „die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner“ gegangen.
Herausgekommen ist ein spannend, aber nicht reißerisch geschriebenes Werk, bei dem das sinistre, von Ratten heimgesuchte Gebäude die Kulisse bildet. Es stellt die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass der bürgerlich geprägte Verhulst zu einem, bis zum Tod im Jahr 1975, reuelosen Nationalsozialisten werden konnte.
Akribisch hat Hertmans in Archiven und in Gesprächen, vor allem mit den Töchtern Letta und Suzy, den Lebensweg des Mannes nachgezeichnet, der sich in jungen Jahren als „krypto-kommunistisch-christlicher Anarchist“ bezeichnet hatte. Verhulst war damals in den Bann flämischer Nationalisten wie Auguste Borms geraten, der im Ersten und Zweiten Weltkrieg mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatte. Verhulst scheint auf den ersten Blick dem Profil eines Schreibtischtäters zu entsprechen. Auf Wunsch seiner tiefgläubigen Ehefrau trägt er daheim im Regelfall keine Uniform. Das Foltern überlässt er meist anderen. Aber Hertmans charakterisiert ihn sehr wohl als Nazi-Schergen. Er schildert auch, wie Ehefrau Mientje einen vom Vater dem Sohn geschenkten und mit der SS-Devise „Meine Ehre heißt Treue“ beschrifteten Dolch empört wegwirft. Immer wieder flüchtet sie sich ins Gebet – viel mehr als ihren tiefen Glauben hat sie den Gräueltaten ihres Manns nicht entgegenzusetzen.
Wie wenig Verhulst Gewissensbisse geplagt haben müssen, zeigt folgende Äußerung beim Prozess in der Heimat im Jahr 1947: „Ich habe meine Pflicht für Flandern getan! Es ging mir nur um Menschenliebe! Ich habe nur aus Idealismus +meinem Volk gedient. Gestank statt Trank bekommt dafür. Was ist das hier für ein Zirkus.“ Verhulst, dessen Todesurteil in lebenslange Haft umgewandelt worden war, gelangte schon 1953 wieder auf freien Fuß, nicht zuletzt Dank der Fürsprache seines Sohnes Adri, der ein renommierter Genter Geschichtsprofessor geworden war. 2000 veröffentlicht er eine Autobiographie unter dem Titel „Sohn eines ‘falschen’ Flamen“ und schildert darin den Prozess als „sehr schmerzliche Prüfung“ für den Vater. Da der Historiker 2002 verstorben ist, ergab sich für Hertmans, anders als bei den Schwestern Letta und Suzy, nicht mehr die Gelegenheit zum Gespräch über den Vater.
Verhulst heiratete nach dem Tod seiner 1969 verstorbenen Frau Mientje erneut und zwar seine langjährige Geliebte und Gesinnungsgenossin Griet Latomme. 22 Jahre nach seinem Tod wurde Griet in Anwesenheit von Vertretern des rechtsradikalen Vlaams Blok sowie einstigen Kollaborateuren gefeiert. Die Laudatio stammte, wie Hertmans bass erstaunt feststellt, aus der Feder von Bart De Wever, damals Mitglied der Sprachenpartei „Volksunie“, seit 2014 Bürgermeister Antwerpens sowie langjähriger Vorsitztender der Neu-Flämischen Allianz (N-VA), seit 2010 größte Partei im belgischen Parlament.
Pikant ist, dass unter den Fachleuten, die Hertmans beim Verfassen seines Buches zu Rate gezogen hat, der angesehene Genter Geschichtsprofessor Bruno De Wever, ein Bruder des N-VA-Vorsitzenden, ist.
Das Buch ist erschienen im Verlag De Bezige Bij, Amsterdam ISBN 978 94 031 0131 6, 412 Seiten, 24,99 EUR.
Radio 1 Interview mit Stefan Hertmans: https://radio1.be/stefan-hertmans-wordt-70-je-hoofd-je-hart-en-je-emoties-blijf-je-dertig-maar-je-lijf-begint-tegen-te
Beiträge und Meinungen