Podiumsdiskussion zur Zukunft der „großen Koalition der Mitte“
Podiumsdiskussion zur Zukunft der „Großen Koalition der Mitte“
Von Michael Stabenow und Reinhard Boest
Die in weniger als neun Monaten stattfindenden Europawahlen werfen ihre Schatten voraus, und die sind eher düster. Zwar gilt auch für diese Wahlen: Meinungsumfragen sind Momentaufnahmen. Aber angesichts der Zustimmung, die EU-skeptische und am rechten politischen Rand angesiedelte Gruppierungen in vielen Mitgliedstaaten aktuell erfahren (wenn sie nicht schon an der Regierung beteiligt sind), ist zu befürchten, dass sie künftig noch mehr Abgeordnete im dann 720 statt 705 Sitze zählenden Europäischen Parlament stellen werden.
Anders als bei Wahlen in den Mitgliedstaaten könnte, wenn es um die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments geht, die Versuchung bei Wählerinnen und Wählern stärker durchschlagen, “Denkzettel” zu verpassen – in der irrigen Annahme, es gehe um nichts. Dabei ist das EU-Parlament Gesetzgeber wie Bundes- oder Landtag, und seine Entscheidungen – etwa in der Klima- oder Energiepolitik – betreffen jeden Bürger unmittelbar.
Daher kommt einer seit langem im Parlament gültigen Grundregel eine zentrale Bedeutung zu: Um ihr Gewicht bei der Gesetzgebung im Zusammenspiel mit dem in der Gesetzgebung gleichberechtigten Ministerrat – dem Beschlussorgan der 27 Mitgliedstaaten – in die Waagschale werfen zu können, müssen
nicht nur Abgeordnete der traditionell größten Fraktionen, die der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Sozialdemokraten (S&D), sondern auch der Liberalen (Renew Europe) und der Grünen/Europäische Freie Allianz (Grüne/EFA) möglichst an einem Strang ziehen.
In dieser Einschätzung waren sich Abgeordnete der vier Fraktionen bei einer gemeinsam von der Vertretung Baden-Württembergs bei der Europäischen Union sowie der überparteilichen Europa-Union, Verband Brüssel, veranstalteten Podiumsdiskussion grundsätzlich einig. Sie stand unter dem Titel „Wechselnde Koalitionen im Europäischen Parlament unter der Lupe: Was kommt nach 2024?“ Auch wenn Moderator Ottmar Berbalk manch brennendes Thema – nicht zuletzt den Umgang mit der Konkurrenz am rechten Rand – unter die Lupe nahm, sorgte er souverän und mit manch launigen Bemerkungen dafür, dass sich die Teilnehmer zwar eine lebhafte Debatte lieferten, aber nicht wirklich in die Haare gerieten.
Tatsächlich handelte es sich um eine reine Männerrunde. Terry Reintke, die Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen, hatte kurzfristig absagen müssen. Für sie war der Sprecher der deutschen Grünen, Rasmus Andresen aus Schleswig-Holstein, eingesprungen. Weitere Teilnehmer waren der Ko-Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe, Daniel Caspary (CDU), der ebenfalls baden-württembergische Abgeordnete René Repasi von der SPD sowie der nordrhein-westfälische FDP-Parlamentarier Moritz Körner.
Nicht nur Frauen waren auf dem Podium Fehlanzeige. Vertreter der Partei “Die Linke” und der Alternative für Deutschland (AfD) befanden sich ebenfalls nicht unter den Teilnehmern – auch wenn der Geist vom rechten deutschen und europäischen Rand immer wieder über dem Podium zu schweben schien. Vor allem Caspary und Andresen lieferten sich dabei einen Schlagabtausch. Der Grünen-Abgeordnete warf der EVP-Fraktion und insbesondere deren Vorsitzenden Manfred Weber (CSU) vor, mit der in Straßburg zur euroskeptischen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) zählenden Partei Fratelli d´Italia der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni anbandeln zu wollen. „Wenn die Brandmauer im Parlament nicht mehr steht, dann haben wir ein Problem“, sagte Andresen.
In fast das gleiche Horn stieß der SPD-Abgeordnete Repasi. Er berichtete, dass im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz Christdemokraten und Liberalen gemeinsame Sache mit Abgeordneten von EKR und der noch weiter rechtsstehenden Fraktion Identität und Demokratie (ID) gemacht hätten. Caspary verwahrte sich dagegen, „als Christdemokrat in die rechte Ecke gestellt zu werden“. Er beklagte aber seinerseits Bestrebungen der Mitte-Linkskonkurrenz, Abgeordnete der Linken im Parlament einzubinden. Es bestehe die Gefahr, dass die Menschen verunsichert würden, was letztlich nur der AfD nutze.
Angesichts von „massiven Zentrifugalkräften“ in Europa, so Caspary, komme es darauf an, dass die europafreundlichen Kräfte im Parlament miteinander redeten. „Wir suchen die Mehrheiten in der Mitte. Wir wollen zusammenführen, nicht spalten“, sagte Caspary. Phasenweise drohte die Diskussion hitzig auf die innenpolitische Bühne abzugleiten – nicht zuletzt über das mit Stimmen von AfD, CDU und FDP im thüringischen Landtag gebilligte Gesetz zur Senkung der Grunderwerbssteuer.
Moderator Berbalk schaffte es jedoch, die Gemüter zu beruhigen und die Diskussion auf die Frage nach einer weiteren Amtszeit von Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin zu lenken. Dabei war die vorherrschende Erwartung zu spüren, dass die CDU-Politikerin eine zweite Amtszeit anstrebe, sich – im März 2024 – zur Spitzenkandidatin der EVP küren lassen, aber nicht um ein Mandat im Europaparlament bewerben werde.
Auch der FDP-Politiker Körner hatte zuvor kräftig gegen die Ausschussarbeit der EU-skeptischen und –feindliche Konkurrenz ausgeteilt: „Von den Rechten ist nie jemand da. Die kennen sich in der Sache nicht aus.“ Wie solle man mit denen vernünftige Mehrheiten aufbauen? Stattdessen gab Körner die Devise aus: „Wer die Probleme löst, macht am Ende die Populisten klein.“
So weit scheint es aber vorerst nicht zu sein, wie eine eingangs der Veranstaltung vom Politikwissenschaftler Manuel Müller, Mitarbeiter des Finnish Institute of International Affairs und Herausgeber des Blogs „Der (europäische) Föderalist“ vorgestellte Projektion Der (europäische) Föderalist: 2023 (foederalist.eu) zu den Kräfteverhältnissen im Parlament zeigte. Demnach deuteten die durch Meinungsumfragen in den 27 Mitgliedstaaten ermittelten derzeitigen Wahlabsichten auf eine Verschiebung nach rechts hin. Davon profitiere sowohl die EKR-Fraktion, die mit einem Zuwachs von 66 auf 89 Sitze rechnen könnte, als auch die ID-Fraktion, der eine Zunahme von 61 auf 87 Sitze zugetraut wird.
Die EVP-Fraktion könnte zwar mit 165 statt 176 Mandaten stärkste Kraft in Straßburg bleiben. Aber Müller gab auch zu bedenken, dass die EVP sich seit einiger Zeit „im Sinkflug“ befinde. Dagegen liege die S&D-Fraktion fast stabil bei 144 statt derzeit 143 Sitzen. Allerdings sei es für die Sozialdemokraten zuletzt insgesamt aufwärts gegangen, auch wenn „die deutsche SPD weiter schwächelt“. Während es für die Liberalen – von 101 auf 95 Mandate – leicht bergab gehen dürfte und für die Fraktion der Linken (GUE/NGL) derzeit Zugewinne um sieben auf 44 Mandate erwartet werden, weist der Weg für die Grünen – von 72 auf 50 Sitze – derzeit steil nach unten. Müller erinnerte jedoch daran, dass die Grünen bei Europawahlen, zu denen sie gut mobilisierten, besser als in Umfragen abschnitten.
Das Fazit – aufgrund des derzeitigen Stimmungsbildes – lautet für Müller trotz der erwarteten Verschiebung der politischen Gewichte nach rechts, dass es im Regelfall, wie auch in den vorangegangenen Wahlperioden (in 65 bis 80 Prozent der Fälle), bei der Zusammenarbeit der „Großen Koalition der Mitte“ bleiben werde und auch müsse. Als Argument dafür führte Müller auch an, dass das Beschlussorgan der EU-Regierungen ebenfalls ein breites politisches Spektrum aufweise. Allerdings bestehe die Gefahr, dass die ständige – erzwungene – Kompromissbildung auf Kosten des politischen Profils der Partner gehe, was wiederum den Rändern Zulauf bescheren könnte.
Der SPD-Mann Repasi gab zudem zu bedenken, dass die EU-Parlamentarier, anders als ihre Kollegen in den Mitgliedstaaten, nicht im engen Korsett von Koalitionsverträgen steckten. Ihr Spielraum sei daher größer, was sich auf die Möglichkeiten zur Bildung politischer Mehrheiten auswirke. Der Politikwissenschaftler Müller sieht es, zumindest wenn man es aus EVP-Sicht betrachte, als „strategisch sinnvoll“ an, die Fühler zuweilen politisch nach rechts auszustrecken. Dies könne im Ringen um politische Mehrheiten in Straßburg als Druckmittel dienen, und die „Machtposition der EVP im Parlament“ stärken. Entsprechendes könnte, falls das Wahlergebnis im Juni 2024 erweiterte Spielräume eröffnet, für Sozialdemokraten auf der linken Seite des politischen Spektrums gelten.
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