Die Leute, Europa

Hin- und hergerissen zwischen großer Politik und privatem Glück

BoD

In seinem Roman „Laune der Götter“ zeichnet Christoph Pauly ein Schreckensbild Brüssels im Zeitalter von Migrationskrise und radikalisierten Anschauungen

Von Michael Stabenow

Eher selten verirrt sich die deutschsprachige Literatur auf die verschlungenen Pfade des Brüsseler EU-Geschehens. Für eine rühmliche Ausnahme sorgte Robert Menasse mit seinem 2017 erschienenen und viel gepriesenen Roman „Die Hauptstadt“. Ein Jahr später, 2018, befasste sich Roland Siegloff, langjähriger EU-Korrespondent der Deutschen Presseagentur (DPA) in seinem Roman „Wolke sechs“ mit den Befindlichkeiten eines für nukleare Sicherheit zuständigen EU-Beamten im Angesicht eines schweren Störfalls in einem belgischen Kernkraftwerk (Eine Fahrt ins Ungewisse – Belgieninfo). Mit einem ebenfalls bedrückenden Thema befasst sich Christoph Pauly, ehemaliger „Spiegel“-Korrespondent in Brüssel, in seinem jetzt erschienenen Roman „Laune der Götter“.

Die 2018/19 spielende Handlung ist auch dieser Tage hochaktuell. Pauly, der ein Jahrzehnt im Umfeld der EU-Institutionen verbracht hat, thematisiert mal einfühlsam, mal nüchtern den mitunter zynischen Umgang mit Flüchtlingen in Europa. Hauptfigur des Romans ist Markus Brüssel (warum musste es ausgerechnet dieser Name sein?), ein deutscher Mittvierziger, der auf der Karriereleiter der Europäischen Kommission rasant emporgestiegen ist.

In der Generaldirektion DG Home, dem „Innenministerium der EU“, hat es der frühere Entwicklungshelfer zum Direktor für Migrationsfragen gebracht. Nur bedingt wird Markus seines Brüsseler Beamtendaseins glücklich, muss er doch, was seinem liberalen Selbstverständnis eigentlich widerspricht, dem aktuellen Zeitgeist folgend, an der Abschottung des Kontinents gegenüber Flüchtlingen mitwirken.

Dass sich sein Schicksal ausgerechnet mit dem der aus dem Senegal über die Biskaya nach Europa geflohenen senegalesischen Lehrerin Awa Kouyaté verquickt, ist einem Unfall in einem Brüsseler Park zu verdanken – und der Kreativität des Verfassers. Vom Krankenbett in einer Brüsseler Klinik aus lässt er Markus seinem Mitarbeiter Lazló lakonisch Hergang und Folgen seines Unfalls schildern: „Ein belgischer Autofahrer prüfte die Stressresistenz meines Körpers. Die Ärzte mussten Hüfte und Beine reparieren.“

Dass ausgerechnet Awa, Zeugin des Unfalls, Markus im Krankenhaus aufsucht, trifft sich gut für den Roman. Es dauert nicht allzu lange, bis die beiden sich in den Armen liegen. Es entspinnt sich jedoch keineswegs eine kitschige Liebesgeschichte zwischen einem wohlhabenden EU-Beamten und einer hilfsbedürftigen Westafrikanerin. Nein, es ist der Auftakt zu einer geschickt und spannend aufgezogenen Erzählung. Dabei können nur die Hauptakteure, vor allem Awa, und, freilich mit Einschränkungen, Markus, beim Leser Sympathien erwecken. Ansonsten wimmelt es in Paulys Brüssel-Tableau von eigensinnigen und niederträchtigen Gestalten.

Um Markus und Awa herum baut Pauly geschickt Erzählstränge, die zunächst parallel verlaufen, um sich in einer Zuspitzung der Geschehnisse miteinander zu verknüpfen. Da ist Markus, sein berufliches Umfeld mit – über seinen Mitarbeiter Lazló – Verbindungen bis tief in die rechtsextreme Szene hinein und, irgendwann, der Warnung vor einer „großen Bombe“ in Brüssel.

Da ist Tapha, der in Brüssel gelandete Cousin von Awa. Er hat zuvor auf Seiten islamischer Terroristen in Syrien gekämpft und wartet nun offenbar in der belgischen Hauptstadt auf den Befehl zu einem weiteren Einsatz. Und da ist schließlich Ingrid, Mitarbeiterin eines belgischen Geheimdienstes, die mit Hilfe eines aus Mali stammenden Spitzels das radikale Milieu in Brüssel aus den Angeln heben will.

Mehr und mehr erfährt Markus, wie sehr er in diesem Spinngewebe verschiedener radikaler Ausrichtungen gefangen wird. Anschaulich beschreibt Pauly, wie sich der EU-Beamte, im Widerstreit zwischen seiner beruflichen Verantwortung, seinen inneren Überzeugung und seinen Gefühlen, immer mehr darin verstrickt. “Sein kleines privates Glück kollidierte mit der großen Politik und mit seiner Arbeit, die vor allem darin bestand, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen“, beschreibt der Autor den Gemütszustand der Hauptfigur.

Da hat das Schicksal bereits seinen Lauf genommen. Das Interesse wird auf einen Schauplatz gelenkt, der an einer vorderen Stelle des Romans scheinbar nur beiläufig erwähnt wird, aber für den Titel des Buchs gesorgt hat: das wegen seiner Gestalt eines Camembert-Käse „Caprice des Dieux“ – zu Deutsch: „Laune der Götter“ – genannte Brüsseler Hauptgebäude des Europäischen Parlaments. Terroristen seien in Besitz detaillierter technischer Zeichnungen gelangt, die beträchtliche Sicherheitsmängel des Glaspalasts offengelegt hätten. Mit einigem Staunen erfährt der Leser, wie sich die Dinge im Parlament plötzlich dramatisch zuspitzen und welche Schlüsselrolle Markus dabei zukommt.

So sehr all dies konstruiert wirkt – spannend ist es allemal geschrieben, und man möchte einfach wissen, wie das alles enden wird. Pauly versteht es, mit einer klaren, überzogene Formulierungen meidenden Sprache den Leser in das Geschehen einzubinden. Nur gelegentlich blitzen bei ihm jene für nicht wenige „Spiegel“-Beiträge charakteristischen sarkastisch-süffisanten Sätze auf. So zum Beispiel bei der Beschreibung eines Drei-Gänge-Menüs mit Jakobsmuscheln zum Abschluss einer der in Brüssel berüchtigten „Teambuilding“-Übungen im Kreis von Kolleginnen und Kollegen: „Wenn sie alle Servierer mit ihrem Migrationshintergrund berücksichtigten, waren sie am Abend sogar den Vorgaben nähergekommen, die die EU-Kommission für die Diversität ihres Personals anstrebte.“

Knallhart, aber keineswegs unzutreffend, wird die Atmosphäre beschrieben, der Markus beim Gang durch das Biotop – die Flure – des EU-Parlaments begegnet Alle Akteure führten sich „wie Schauspieler auf einer großen Bühne“ auf. „Als wären alle auf Droge oder mit einer guten Flasche Rotwein im Abgeordnetenrestaurant betankt worden“, fährt der Verfasser fort, ehe er den irgendwie darauf neidischen Markus in Gedanken sagen lässt: „Wie unfair, meine Vorurteile.“ Dass ausgerechnet ein schmierig wirkender westfälischer Lobbyist Markus den Posten eines Direktors in der DG Home verschafft hat, entspricht zwar landläufigen Vorstellungen von der Brüsseler Personalpolitik. Gerne hätte man aber auch erfahren, wie dieser Karrieresprung in der Praxis gedeichselt worden sein könnte.

Meist meidet Pauly aber die gängigen Klischees, die sich rings um Parlament, Kommission und Ministerrat in Brüssel ranken. Zu ernst ist der Stoff, aus dem die Handlung seines Romans gestrickt ist. Markus Brüssel erscheint als einer der Gutmenschen, der die europäischen Grundwerte von Menschlichkeit und Toleranz bewahren möchte, aber sie durch den Migrationsdruck bedroht sieht. „Ohne Lösung für das Problem stärken wir die die Extremisten und Populisten, die das solidarische Europa zerstören wollen“, lässt der Autor Markus, der hin- und hergerissen scheint zwischen seinen Idealen und der Realität an Europas Grenzen, während der „Teambuilding“-Übung sagen.

Aber bliebe jenes „solidarische Europa“ nicht gerade dann auf der Strecke, wenn die „Probleme“ – wie auch dieser Tage im Kreis der EU-Partner – im Sinne einer Festung Europa „gelöst“ werden sollen? Es ist eine Frage, die Christoph Pauly nur indirekt, aber im Schlusskapitel seines lesenswerten Romans – mit einem versöhnlichen Ausgang – durchaus beantwortet.

Christoph Pauly, Laune der Götter, Verlag Books on Demand, Norderstedt, 2023, 358 Seiten, 24,99 Euro, als E-Book 9,99 Euro

ISBN-13: 9783756855223

 

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