Von Reinhard Boest
Die Modernisierung des Eisenbahnnetzes ist nicht nur in Deutschland ein aktuelles und umstrittenes Thema. Auch in Belgien ist dies eine Daueraufgabe, die in Mehrjahresplänen immer aufs Neue bestätigt wird – wobei Projekte oft von einem Plan in den nächsten übertragen werden, ohne dass man ein Ende sieht. Das seit Jahrzehnten in Arbeit befindliche Brüsseler S-Bahnnetz ist ein besonders eindrückliches Beispiel.
Wegen seiner zentralen Lage im europäischen Eisenbahnnetz hat Belgien in der Vergangenheit auch vom Ausbau des europäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes profitiert, das wesentlich auf Initiativen der Europäischen Union zurückgeht und auch von ihr mitfinanziert wurde (früher bekannt als TEN-T – Trans European Transport Networks). Fahrtzeiten zwischen 90 Minuten und unter drei Stunden von Brüssel nach Paris, London, Amsterdam oder Köln sind seit vielen Jahren eine Selbstverständlichkeit – und gegenüber dem Auto und sogar dem Flugzeug mehr als konkurrenzfähig.
Eine gerade aus der Sicht der EU-Institutionen zentrale Verbindung, die auch Teil der TEN-T ist, fehlt jedoch noch immer: diejenige zwischen den Europa-Hauptstädten, den Sitz- und Arbeitsorten der Organe in Brüssel, Luxemburg und Straßburg. Brüssel ist der Sitz von Kommission und Ministerrat und der wichtigste Arbeitsort für die politischen und Gesetzgebungsprozesse der EU. Allgemein bekannt – und breit kritisiert – ist aber, dass die Plenarsitzungen der Europäischen Parlaments monatlich in Straßburg stattfinden, verbunden mit einem „Reisezirkus“, mit dem Mitarbeiter und Material jeweils hin- und wieder zurückbefördert werden müssen.
Aber auch der Ministerrat gönnt sich einen Reisezirkus, denn in den Monaten April, Juni und Oktober treffen sich die Minister der Mitgliedstaaten nicht in Brüssel, sondern auf dem Kirchberg in Luxemburg. Dort haben auch andere EU-Organe ihren Sitz: unter anderen der Gerichtshof, der Rechnungshof, die Investitionsbank, einiger Dienststellen der EU-Kommission und formell sogar das Generalsekretariat des Europäischen Parlaments. Versuche, die Sitze oder jedenfalls den Arbeitsort (in Brüssel) zu konzentrieren, sind angesichts der nationalen Widerstände seit Jahrzehnten aussichtslos, so dass man sich mit der Realität abfindet. Daher hat sich vor allem die Kommission schon zu Beginn der TEN-T dafür eingesetzt, eine schnelle Eisenbahnverbindung zwischen den drei Europa-Hauptstädten („EuroCapRail“) auf die Tagesordnung zu setzen.
Allerdings bringt die Modernisierung nicht nur Vorteile für die “Eurokraten” – vor allem würden die über 40.000 Pendler profitieren, die täglich aus Belgien nach Luxemburg zur Arbeit fahren.
Wie man leicht feststellen kann, gibt es die schnelle Verbindung bis heute nicht. Zwischen Brüssel und Luxemburg fährt zwar stündlich ein Intercity-Zug, sogar ohne Umsteigen, aber mit 13 Zwischenhalten. Die Fahrtzeit von 3 Stunden und 16 Minuten ist deutlich länger, als man mit dem Auto für die knapp 200 Kilometer bräuchte. Von Luxemburg nach Straßburg (etwa 250 Kilometer) braucht man mit dem Zug zweieinhalb Stunden (mit Umsteigen in Metz) – es sei denn, man nutzt den einzigen direkten TGV, der es in etwas mehr als anderthalb Stunden schafft. Sucht man in den einschlägigen Fahrplan-Apps nach einer Fahrt von Brüssel nach Straßburg, wird nicht die entfernungsmäßig kürzeste Strecke über Luxemburg angezeigt (etwa 450 Kilometer), sondern eine TGV-Verbindung über Paris mit Umsteigen zwischen dem Nord- und dem Ostbahnhof (800 Kilometer mit einer Fahrtzeit von etwa 4 Stunden).
Seit 2007 wird an einer Modernisierung der Strecke zwischen Brüssel, Namur und der Grenze nach Luxemburg bei Arlon gearbeitet, bis 2029 soll sie abgeschlossen sein. Dann soll die Fahrtzeit deutlich kürzer sein. Dazu müssten die Züge mit einer Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h fahren können; diese liegt aber derzeit nur bei 130 km/h, meistens lässt die Strecke nur 120 km/h oder noch weniger zu. Das liegt an der Topografie der Strecke, die bereits 1856 (Brüssel – Namur) beziehungsweise 1859 (Namur – Luxemburg) in Betrieb genommen wurde und beim Personal als die schönste, aber auch schwierigste Bahnlinie in Belgien gilt.
Da niemand eine ganz neue Strecke bauen will wie die seit 40 Jahren entstandenen neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken (dafür wäre der Bedarf wohl nicht ausreichend), bleibt nur die Ertüchtigung der bestehenden Anlagen. Dazu gehört die Begradigung von 150 Kurven, die Beseitigung von über 30 Bahnübergängen, die Anpassung von Brücken und Tunneln sowie der elektrischen und der Signalausstattung. Ein erheblicher Teil davon wurde bereits realisiert; die anfangs auf 680 Millionen Euro geschätzten Kosten dürften letztlich auf eine Milliarde steigen (verglichen mit der Kostenentwicklung für die Metrolinie 3 in Brüssel eine überschaubare Steigerung).
Jetzt konnte der scheidende föderale Verkehrsminister Georges Gilkinet sich auch über einen kleinen Zuschuss für „EuroCapRail“ aus EU-Töpfen freuen. Mit rund 20 Millionen Euro soll in den technischen Ausbau der Strecke investiert werden. Weitere 25 Millionen Euro fließen in die Ausstattung der Fahrzeuge der belgischen Staatsbahn mit der neuesten Version des europäischen Signal- und Sicherungssystems ETCS. Das hilft dann nicht nur für Fahrten auf der neuen Strecke nach Luxemburg, sondern auch auf anderen grenzüberschreitenden Verbindungen nach Deutschland, Frankreich und in die Niederlande.
Bleibt zu hoffen, dass 2029 dann wirklich alles fertig wird. Das Projekt ist zwar seit 20 Jahren mit dem Prädikat „vorrangig“ versehen, aber es nie ausgeschlossen, dass es bei der Finanzierung „hakt“, denn für die Verteilung der Investitionsmittel auch für die Infrastrukturgesellschaft Infrabel (die für den Bau zuständig ist) gilt die eherne belgische 60/40-Regel: 60 Prozent für Flandern, 40 Prozent für die Wallonie.
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