Aktuell, Europa

EU-Erweiterung und Reformen: eine Herausforderung

Von Reinhard Boest

Muss die EU vor der nächsten Erweiterungsrunde reformiert werden? Und wie? Über diese – bei weitem nicht nur akademische – Frage diskutierten  in der Landesvertretung von Nordrhein-Westfalen in Brüssel  ein Europarechtsprofessor und ein Europa-Praktiker, moderiert von der Journalistin Katrin Pribyl. Die gut besuchte Mittagsveranstaltung war der zweite Teil einer Serie, mit der vor der Europawahl im Juni ausgewählte aktuelle Themen aufgegriffen werden. Das erste „NRWinEU:Spotlight“ hatte den Antisemitismus zum Gegenstand (https://belgieninfo.net/antisemitismus-in-europa-veranstaltung-in-der-nrw-vertretung/); es folgen noch Veranstaltungen zum Thema Medien/Fake News und zu den Wahlen in Europa und den USA, wie der Leiter der Vertretung, Rainer Steffens, ankündigte.

Christian Calliess lehrt seit 2008 an der Freien Universität Berlin. Von 2015 bis 2018 gehörte er dem European Political Strategy Centre an, dem kommissionsinternen Think Tank des damaligen Präsidenten Jean-Claude Juncker In dieser Eigenschaft war er ein gefragter Gesprächspartner bei vielen Brüsseler Diskussionsrunden. Thomas Westphal ist seit Anfang 2022 Generaldirektor für Wirtschaft und Finanzen beim Rat der EU und war vorher lange Jahre Leiter der Europa-Abteilung im Bundesfinanzministerium.

Steffens setzte in seiner Begrüßung den Rahmen: die nächste EU-Erweiterung werde schwieriger werden als alle vorangegangenen. Bei den aktuellen oder künftigen Kandidaten – Westlicher Balkan, Ukraine, Moldau, Georgien – stellten sich ganz verschiedene Herausforderungen. Sollten die Kandidaten alle zugleich aufgenommen werden? Oder getrennt, nach welchen Kriterien? Welche Reformen brauche die EU, um eine Erweiterung bewältigen zu können? Bekannte Stichworte sind die Entscheidungsfähigkeit der EU (Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat statt Einstimmigkeit etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik), die Größe der Europäischen Kommission und generell die Verteilung von Macht und Geld.

Calliess und Westphal stellten übereinstimmend fest, dass eigentlich alle wüssten, dass es Reformbedarf in der EU gebe. Das rücke gerade bei – anstehenden – Erweiterungen in den Fokus und sei schon bei früheren Erweiterungsrunden so gewesen. Gefährlich werde es, wenn die Erweiterung eine (politische) Dynamik entwickele, die den internen Reformbedarf überrolle. Man habe es bisher immer irgendwie geschafft, sich durchzuwursteln. Es sei nämlich ebenso klar, dass niemand wirklich eine Änderung der EU-Verträge wolle. Die heutige Stimmungslage mache Ratifizierungsverfahren nahezu aussichtslos. Es sei zudem zu befürchten, dass man sich auch mit denen auseinandersetzen müsse, denen die erreichte Integration schon heute viel zu weit gehe und deren Anliegen es sei, etablierte Politiken zurückzudrehen und dem Parlament, der Kommission und vor allem dem Gerichtshof engere Grenzen zu setzen.

Beide Diskussionsteilnehmer plädierten daher dafür, die schon heute in den EU-Verträgen vorgesehenen Instrumente besser zu nutzen. Dazu gehöre vorrangig die Durchsetzung des EU-Rechts. Um insbesondere die Grundwerte durchzusetzen, müssten EU-Finanzmittel konsequent entsprechend konditioniert werden. Das habe sich als deutlich effizienter erwiesen als das schwerfällige Verfahren zur Aberkennung der Stimmrechte. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) sollte hier eine stärkere Rolle spielen. Calliess wies bedauernd darauf hin, dass die Rechtsgemeinschaft, auf der die europäische Integration von Anfang an beruhe, zunehmend erodiere. Die Bereitschaft, sich an die gemeinsam beschlossenen Rechtsakte auch zu halten, sei elementar für den Fortbestand der EU. Vielleicht liege es nicht immer am Unwillen, sondern zuweilen auch an einer Überforderung, bestimmte Integrationsschritte mitzumachen. Man solle daher die – schon praktizierte – Differenzierung bei der Integration neu justieren. Calliess kann sich vorstellen, dass neue Mitgliedstaaten nicht sofort das volle Vertragswerk übernehmen, sondern etwa mit einer Teilnahme am Binnenmarkt beginnen und sich erst später in die Politische Union integrieren, wo die Verpflichtungen deutlich weiter gehen, wie insbesondere der Schengen-Raum mit seinen Anforderungen an rechtsstaatliche Strukturen. Dieses Modell könne aber auch für Staaten relevant sein, die schon Mitglied seien; wenn ihnen die Integration zu weit gehe, könnten sie – eventuell auf Zeit – etwa aus der Innen- und Justizpolitik (Schengen, Migration) “aussteigen” und sich auf die Teilnahme am Binnenmarkt beschränken. Notfalls solle man aber “Bremser” auch ausschließen können; ein solches Modell gebe es schon bei der Gemeinsamen Sicherheitspolitik (PESCO). Die “Ables” – Staaten, die vorangehen könnten und wollten – sollten nicht durch die “Unwilling” – Staaten, die nicht mitmachen wollten – aufgehalten werden. Im bestehenden System sollte man vor allem die Vertragsklauseln nutzen, die einen Übergang zu Mehrheitsbeschlüssen in einem Verfahren ohne Ratifizierung ermöglichen.

Westphal erinnerte daran, dass sich – trotz des knappen Wortlauts des EU-Vertrages zur Erweiterung – seit Jahren ein Rahmen entwickelt habe, an dem man sich orientiere. Begonnen habe das mit den sogenannten Kopenhagener Kriterien (1993), lange vor der ersten Ost-Erweiterung 2004, die heute das Gerüst der Grundwerte bilden, bis zur Entscheidung der Staats- und Regierungschefs, mit der im vergangenen Dezember die Ukraine und Moldau Beitrittskandidaten wurden.

Ein wesentliches Kriterium sei aber auch die sogenannte Absorptionsfähigkeit der EU. Die Auswirkung der zukünftigen Erweiterung auf die Finanzen werde grundlegende Änderungen erzwingen, ob man das wolle oder nicht. Westphal wies darauf hin, dass mit den Kandidatenstaaten die Einwohnerzahl der EU um 23 Prozent zunehmen werde, die Wirtschaftsleistung – und damit der EU-Haushalt – aber nur um 2,5 Prozent. Wenn man die geltende Kohäsions- und Agrarpolitik, die derzeit zwei Drittel des EU-Haushalts ausmachen, mit unveränderten Kriterien fortführe, würden praktisch alle Mittel in die neuen Mitgliedstaaten fließen. Für “moderne” Politiken wie Forschungsförderung oder Herausforderungen wie Klimawandel, Sicherheit/Verteidigung sowie Migration werde kaum etwas bleiben.

Man kann sich vorstellen, dass eine Abschaffung der Regionalförderung auch in den Ländern, die jetzt noch die größten Profiteure sind, oder der EU-Agrarsubventionen auf heftigen Widerstand stoßen wird. Die aktuelle “Wut” der Bauern in der ganzen EU, die sich in Polen auch direkt gegen die Ukraine richtet, wäre dann nur ein Vorgeschmack. Der Vorschlag, die Mittel aus dem EU-Haushalt nur noch für “europäische” Güter wie etwa den gemeinsamen Schutz der Außengrenzen oder für gemeinsame Herausforderungen wie Klimawandel oder Sicherheit zu verwenden, klingt nachvollziehbar. Aber ob er in der Praxis durchsetzbar ist? Auch EU-geförderte Projekte “vor Ort” sind schließlich ein wichtiges Instrument, die Menschen für Europa zu gewinnen. Gerade in Vorwahlzeiten ist kaum damit zu rechnen, dass die Politik mutig genug ist, die Menschen mit solchen Herausforderungen und Veränderungen zu konfrontieren.

So blieb am Ende der Diskussion – an der das Publikum aus Zeitmangel leider kaum teilnehmen konnte – die Erkenntnis, dass sich Wissenschaft und Praxis über die Dimensionen des Problems einig sind, aber leider auch keine Wundermittel wissen.

Wer sich die Debatte in voller Länge ansehen möchte, findet demnächst einen Link auf der Internetseite der Landesvertretung: https://www.mbeim.nrw/nrw-bei-der-eu

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