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Erinnerungen an die Brüsseler Jahre von Jacques Delors

© Institut Jacques Delors

Von Michael Stabenow

An Würdigungen des im Alter von 98 Jahren verstorbenen früheren EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors mangelt es dieser Tage nicht. „Jacques Delors war ein Visionär, der Europa stärker gemacht hat. Seine Arbeit hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben von Generationen Europäer, einschließlich meiner eigenen“, erklärte beispielsweise die derzeitige Amtsinhaberin Ursula von der Leyen.

Die Verdienste des französischen Sozialdemokraten, der ein Jahrzehnt lang, von 1985 bis 1995, an der Spitze der Europäischen Kommission stand, sind unbestritten. Unter seiner zielstrebigen Führung gelang es, die damalige Europäische Gemeinschaft aus der sogenannten Eurosklerose herauszuführen, das Projekt des schrankenlosen europäischen Binnenmarkts voranzutreiben sowie anschließend den Blick die Ende 1991 in Maastricht beschlossene Währungsunion zu richten.

Aus deutscher Sicht nicht zu unterschätzen ist der Beitrag, den Delors nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 zur deutschen Wiedervereinigung geleistet hat. Im Zusammenspiel mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Staatspräsidenten François  Mitterrand hat er geholfen, die – nicht immer rational begründeten – Sorgen vor einer übermächtigen Rolle Deutschlands in Europa zu nehmen.

Das Erfolgsgeheimnis: Die „Delors-Methode“

Ich habe das Jahrzehnt der von Delors geführten Kommission als Brüssel-Korrespondent aus nächster Nähe, soweit das für Journalisten möglich ist, erlebt. In Erinnerung bleibt mir vor allem das, was als „Delors-Methode“ bezeichnet wird. Der einstige christliche Gewerkschafter war kein begnadeter Redner, seine Stimme klang zuweilen monoton, und er wirkte, zumindest bei öffentlichen Auftritten, recht unnahbar. Aber den inhaltlichen Botschaften mangelte es selten an Klarheit.

Meine erste Erinnerung an Jacques Delors reicht in den März 1983 zurück. Damals war er als französischer Finanzminister zu einer eilends einberufenen Sitzung zur Anpassung der Wechselkurse nach Brüssel gekommen. Dass die Verhandlungen mit dem damaligen deutschen Finanzminister Gerhard Stoltenberg zunächst alles andere als harmonisch verlaufen waren, bewies ein nächtlicher Wutausbruch des Franzosen vor dem Sitzungsgebäude in der Brüsseler Rue Froissart.

Kurz vor Beginn des darauffolgenden Gipfeltreffens der Staats-und Regierungschefs konnten die Wogen doch noch geglättet und eine Verständigung über die Neuordnung der Wechselkurse erreicht werden. Dies offenbarte eine Eigenschaft, die auch den späteren Kommissionspräsidenten Delors auszeichnen sollte: Prinzipientreue, aber mit Kompromissbereitschaft.

Dass Delors, heute als „Baumeister“ oder „Visionär“ Europas gepriesen, keineswegs erste Wahl war, hatte ich beim Gipfeltreffen im Juni 1984 in Fontainebleau bei Paris erlebt. Eigentlich galt Außenminister Claude Cheysson als Favorit für die Nachfolge des seit 1981 meist glücklos wirkenden luxemburgischen Kommissionspräsidenten Gaston Thorn. Dass die Wahl letztlich auf Delors fiel, kam recht überraschend, war aber offenbar nicht zuletzt durch die Bedenken von Kohl und der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher gegen Cheysson zu verdanken.

Es ist eine Ironie der Geschichte, das Delors mit dem Segen der „Eisernen Lady“ aus London ins Amt kam. Noch zeichnete sich nicht ab, wie sehr Delors, bei allem auch schon damals bei Teilen der britischen Presse üblichen „Brüssel-Bashing“, zum „roten Tuch“ werden konnte. Dabei hatte Thatcher das erste große von Delors angestoßene Projekt, die Verwirklichung des Binnenmarktes bis Ende 1992, letztlich, wenn auch murrend, unterstützt.

Worin bestand nun die „Delors-Methode“? Schon schnell zeigte sich sein straffer Führungsstil in der Kommission. Delors umgab sich in seinem engsten Mitarbeiterstab vor allem mit französischen Getreuen, allen voran dem asketisch wirkenden späteren EU-Handelskommissar Pascal Lamy als Kabinettchef. Als Glücksgriff erwies sich für Delors die Berufung des über einen guten Draht zu CDU und CSU verfügenden deutschen Beamten Günter Burghardt zum stellvertretenden Kabinettschef.

Verständnis für Deutschland

Burghardt sollte Delors nicht nur beim Aufbau eines vertrauensvollen Verhältnisses zu Kohl behilflich sein. Das zeigte sich nicht zuletzt in der Art, wie der Kommissionspräsident nach dem Fall der Berliner Mauer für die reibungslose Eingliederung des nun wiedervereinigten Deutschland in die Gemeinschaft eintreten sollte. Er trug auch dazu bei, Vorbehalte von Kritikern, neben Thatcher auch der damalige niederländische Ministerpräsident Ruud Lubbers, zu überwinden.

Was Delors ausmachte, waren weniger flammende Reden. Das galt selbst dann, wenn er gelegentlich bei Pressekonferenzen vor Gipfeltreffen Horrorszenarien an die Wand malte. Häufiger kam es auch vor, dass er Erwartungen zu dämpfen versuchte. Das war Teil seiner Strategie, über die Bande der Medien zu spielen, um seine Ziele zu verwirklichen. Vor allem setzte er darauf, durch Argumente zu überzeugen.

Das Binnenmarkt-Projekt: Ziele mit Fristen verknüpfen

Das gemeinsam mit dem britischen Binnenmarktkommissar Lord Cockfield kurz nach Amtsantritt in Brüssel 1985 zu Papier gebrachte Programm zur Marktintegration folgte der von Delors bevorzugten Strategie, inhaltliche Ziele mit Fristen zu verknüpfen: So sollten bis zum 31. Dezember 1992 die innergemeinschaftlichen Schranken für Waren, Kapital, Dienstleistungen und die Bürgerinnen und Bürger fallen.

Dazu bedurfte es auch geeigneter politischer Instrumente. Für die damalige „Eurosklerose“ bezeichnend war, dass manche Regierungen selbst dann, wenn Mehrheitsbeschlüsse in der Gesetzgebung zulässig waren, auf Einstimmigkeit beharrten und ein Veto einlegten. Das galt übrigens nicht nur für Großbritannien und Frankreich, sondern auch für den europäischen „Musterschüler“ Deutschland, dessen damaliger Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle im Mai 1985 mit einem Veto – kurzfristig – eine geringfügige Senkung der garantieren Getreidepreise verhinderte.

Einen Monat später wurde beim Mailänder Gipfeltreffen eine sogenannte Regierungskonferenz zur Änderungen der Römischen Verträge von 1957 beschlossen. Das geschah mit Mehrheit, nicht zuletzt gegen die Stimme Thatchers, und, wie damals deutsche Diplomaten genüsslich streuten, angeblich durch einen Einfall, der dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher beim morgendlichen Duschen gekommenen war.

Ergebnis war die Ende des Jahres von den Staats- und Regierungschefs in Luxemburg beschlossene „Einheitliche Europäische Akte“ – die 1987 in Kraft getretene Vertragsreform. Sie erweiterte den Anwendungsbereich für Mehrheitsentscheidungen der Regierungen. Allein die „Drohung“ damit sollte viele Beschlüsse zur Verwirklichung der im „Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarkts“ Mitte 1985 enthaltenen Vorschläge der Kommission ermöglichen.

Für Delors war dies neben der Verknüpfung von politischen Zielen mit Fristen ein nächster entscheidender strategischer Schritt: die zur Erreichung der Ziele erforderlichen politischen Instrumente zu schaffen. Dem folgte, der Delors-Logik entsprechen, ein weiterer Schritt: da der Abbau der Binnenmarktschranken vor allem wirtschaftsstarke Staaten wie Deutschland begünstigen würde, erschien als Ausgleich eine Aufstockung der Strukturhilfen für Schwächere, damals die südlichen Mitgliedsländer, zwingend. Zumindest konnte Delors diese Argumentation so zwingend klingen lassen, dass sie im Februar 1988 im sogenannten Delors-I-Paket einmündete, dem Beginn einer europäischen Regionalpolitik. Die Ausstattung des Gemeinschaftshaushalts blieb allerdings damals hinter den Brüsseler Wünschen weit zurück.

Vom Binnenmarkt zur Währungsunion

Ähnlich verlief es knapp fünf Jahre später, beim Edinburgher Gipfeltreffen Ende 1992 bei der Annahme des „Delors-II-Pakets“ mit abermals aufgestockten Haushaltsmitteln. Sie kam zustande vor dem Hintergrund einer 1988 keineswegs absehbaren politischen Umwälzung. Im Juni 1988, beim Gipfeltreffen in Hannover, wurde ein Projekt in Gang gesetzt, das nicht zuletzt für Delors als logische Fortsetzung des Binnenmarktvorhabens galt: die Verwirklichung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Delors wurde zum Vorsitzenden eines Ausschusses von Fachleuten ernannt, die dazu den Weg vorzeichnen sollte.

Obwohl Delors in diesem Fall die Verknüpfung eines Ziels – der WWU – mit einem festen Datum zu riskant erschienen war, kam es beim Gipfeltreffen in Maastricht Ende 1991 genau dazu. Dort wurde beschlossen, die einheitliche Währung – den heutigen Euro – auch dann spätestens 1999 einzuführen, wenn mindestens zwei Mitgliedstaaten die Kriterien dafür erfüllt hätten. Zumindest für Länder wie Deutschland, die Niederlande und Luxemburg galt das damals als sicher.

Die Folgen des Falls der Berliner Mauer

Dass der Fall der Mauer die ursprüngliche Delors-Strategie eines schrittweisen Vorgehens durchkreuzen würde, war 1988 nicht absehbar. Plötzlich rückten vor dem Hintergrund einer nicht nur – 1995 – um Österreich, Finnland und Schweden, sondern längerfristig auch um die ehemaligen Ostblockstaaten erweiterten Gemeinschaft auch Schritte zum Aufbau einer sogenannten Politischen Union in den Vordergrund. Was aber für Delors blieb, war die Verknüpfung von Ziele mit Instrumenten.

So sah der Maastrichter Vertrag neben dem Fahrplan zur Verwirklichung der Währungsunion die Ausweitung der für Mehrheitsbeschlüsse in Frage kommenden Politikfelder vor. Und er räumte mit dem sogenannten Mitentscheidungsverfahren dem direkt gewählten Europäischen Parlament die Gleichberechtigung mit den Regierungen bei vielen Gesetzesvorhaben ein. Doch die Ausweitung des Mehrheitsprinzips ging nicht so weit, wie es viele gewünscht hatten. Ganz im Sinne von Delors war daher eine in Maastricht formulierte „Revisionsklausel“. Sie sah die die Überprüfung des Vertrags bis Ende 1996 vor – was letztlich in den Amsterdamer Vertrag von 1997 einmündete.

Ein klassischer Delors-Schachzug war die Annahme des nach ihm benannten Haushaltspakets in Edinburgh. Abermals hatte der Kommissionspräsident, darin durch die Konzessionsbereitschaft von Bundeskanzler Kohl begünstigt, sich mit der Logik durchgesetzt, dass weitere Integrationsschritte im Gegenzug – für die neu in die Vertrag aufgenommene „Kohäsionspolitik“ – mehr Mittel für strukturschwache Mitgliedsländer erforderten.

Das Gipfeltreffen in Edinburgh markierte das Ende der zweiten vierjährigen Brüsseler Amtszeit von Delors. Da durch den Vertrag von Maastricht die Amtszeiten der Kommission auf fünf Jahre verlängert wurde, folgte eine zwei Jahre andauernde „Delors-II-Kommission. Es war eine Zeit des Übergangs – nicht zuletzt immer stärker durch Spekulationen um eine mögliche Kandidatur bei der französischen Präsidentschaftswahl im Jahr 1995 überlagert.

Das Ende der Brüsseler Jahre

Dass Delors trotz günstiger Umfragewerte darauf verzichtete, legte eine Facette bloß, die dem oft gezeichneten Bild des selbstbewussten und machtgierigen Politikers widersprach. Als Grund für seinen Verzicht auf eine Kandidatur nannte Delors damals nicht nur Zweifel daran, eine handlungsfähige Mehrheit im Parlament hinter sich zu sammeln. Er führte auch sein 1995 erreichtes Alter von 70 Jahren an. Seinem Herzensprojekt – Europa – blieb Delors bis zu seinem Tod 28 Jahre später treu, auch wenn er, wie er es auch als Kommissionspräsident immer wieder gerne getan hatte, vor allem hinter den Kulissen wirkte.

Besondere Beziehung zu Belgien

Sein Privatleben hat Delors zeitlebens, auch in den Brüsseler Jahren, nicht in der Öffentlichkeit ausgebreitet. Dass er eine besondere Beziehung zu Belgien hatte, war jedoch bekannt. Ein Teil seiner Vorfahren stammte aus Westflandern. Und auch aus einer weiteren Leidenschaft machte Delors keinen Hehl: seiner Begeisterung für den Sport. So ist es ein offenes Geheimnis, dass zur täglichen Lektüre auch die französische Sportzeitung “L´Équipe“ gehörte.

 

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