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Eine Veranstaltung, die unter die Haut ging

Simon Gronowski; Foto: Heide Newson

Von Heide Newson

Das Datum hatte die Hessische Landesvertretung für ihre Veranstaltung „Kein Raum für Antisemitismus“ am 10. November bewusst gewählt, was Hessens Innenminister Roman Poseck in seiner Begrüßungsansprache unterstrich. Der 9. November sei historisch relevant, da in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 die Novemberpogrome (damals als „Reichskristallnacht“ bezeichnet) stattgefunden hätten. „Sechs Millionen Juden wurden ermordet. Das dürfen wir nicht vergessen, das sind wir auch deren Familien schuldig. Judenhass ist auch in unserer heutigen Gesellschaft präsent“, sagte der CDU-Politiker. Er verwies auf den starken Anstieg antisemitischer Vorfälle infolge der terroristischen Angriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. „Der schnelle Angriff hat über 1200 Menschen das Leben gekostet und Spuren hinterlassen. Die Erschütterung hält an. Deshalb kann sich weder Europa, noch Deutschland, noch Hessen entspannt zurücklehnen”, sagte Poseck. Der Welle des zunehmendes (Juden)Hasses trete das Land Hessen vehement entgegen.

Klare Positionierung und historische Verantwortung

In seiner vielbeachteten Rede betonte Poseck immer wieder die dauerhafte Verantwortung Deutschlands, alles zum Schutz jüdischen Lebens zu tun. Er stellte klar, dass sich Jüdinnen und Juden in Deutschland frei und sicher fühlen könnten und müssten. Gerade für Deutsche sei es wichtig, niemals zu vergessen, was geschah, und die Gesellschaft zu sensibilisieren. Und das mache das Land Hessen durch Gedenkveranstaltungen wie „Kein Raum für Antisemitismus“ und das dazugehörige Forschungsprojekt. Bei diesem Projekt, einer Initiative des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, geht es darum zu analysieren, inwieweit antisemitische Positionen als „Brücke“ zwischen Islamisten, Rechtsextremisten und Linksextremisten dienen. Dank gewonnener Analysen sei man dann in der Lage, dem zunehmenden Antisemitismus in Hessen entgegenzuwirken, bemerkte Bernd Neumann, Präsident des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Es gelte, ein klares Zeichen zu setzen, dass judenfeindliches Gedankengut in der Gesellschaft nicht toleriert werde.

Zeitzeugen

Zwei Überlebende des Holocaust, der 94-jjährige Simon Gronowski sowie Barones Regina Sluszny aus Antwerpen, wurden von Michael Thaidigsmann, Korrespondent der Jüdischen Allgemeinen, zu ihrem Leben in Belgien unter deutscher Besetzung befragt.

Als der belgische Holocaust-Überlebende Gronowski, geboren am 12. Oktober 1931 in Uccle als Sohn polnischer und litauischer Juden, sodann über sein Leben berichtete, floss im Publikum so manche Träne.

Meine Mutter, meine Schwester und ich wurden am 17.März 1943 von der Gestapo verhaftet und in die Kaserne in Mechelen gebracht. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus”,  sagte Gronowski. Am 19. April 1943 wurde er mit seiner Mutter und Schwester nach Auschwitz-Birkenau deportiert. “Ich war damals elf Jahre, als wir mit dem Zug von der Kaserne in Mechelen deportiert wurden. Ich hatte Angst, wusste nicht, was um mich herum geschah, als wir in einen Waggon verfrachtet wurden. Das war kein normaler Zug, alles war so dunkel, schmutzig und unheimlich. Die Türen waren mit Stacheldraht gesichert, ich fürchtete mich, ich war ja gerade 11 Jahre alt. Alles war so unheimlich“, sagte Simon Gronowski.

Die Flucht

Kurze Zeit nach der Abfahrt wurde der Zug von drei jungen Mitgliedern des belgischen Widerstands gestoppt, indem sie eine rote Sturmleuchte auf die Gleise stellten, was als Notsignal galt. Als der Zug seine Geschwindigkeit verlangsamte, Menschen zu fliehen versuchten, und die Tür offen war, entschied Simons Mutter, dass ihr Kind springen solle. Sie stieß ihren kleinen Sohn aus dem fahrenden Zug, um sein Leben zu retten. Sie selbst war zu schwach zum Springen. „Aber ich wollte zurück zu meiner Mutter, doch das ging nicht, da Schüsse fielen, und so rannte ich so schnell ich konnte weg, und das die ganze Nacht. Als ich am nächsten Morgen ganz verschmutzt in einem Dorf ankam, klingelte ich an einem Haus. Eine Frau öffnete. Sie wusch mich, gab mir frische Kleider von ihrem Sohn,“ so Simon, der von der Frau aus Angst wegschickt wurde. Schließlich traf er einen Polizisten, der erkannte, dass er ein entlaufenes jüdisches Kind war. Dieser Polizist meldete Simon nicht, sondern brachte ihn zu Verwandten, die ihm halfen, sich zu verstecken. „Ich war etwa 80 Kilometer von Brüssel entfernt, bestieg einen Zug in Richtung Brüssel, der Gott sei Dank nicht kontrolliert wurde“, erzählte Gronowski.

Bis zur Befreiung Belgiens im September 1944 verbrachte er sein junges Leben in verschiedenen Orten im Untergrund. „Mein Vater starb im Jahr 1945, da war ich gerade mal 13 Jahre alt und nun ganz alleine auf der Welt“, erklärte Simon Gronowski. Aber er schaffte es, studierte und wurde Rechtsanwalt. „Das bin ich heute noch, mit 94 Jahren bin ich zu jung, um aufzuhören“, erzählte Gronowski. Zum Gedenken an seine Schwester Ita, die sieben Jahre älter als er und eine talentierte Jazzpianistin war, setzte er sich dann auch ans Klavier und zeigte sich als grandioser Jazzspieler. „Jazz und die Liebe meiner Eltern, die ich als kleines Kind erhielt, haben mir nach dem Krieg das Leben gerettet. Ich war nie von Hass erfüllt, Hass ist eine Krankheit, die ich nie in mir gehabt habe,“ so der 94-Jährige, der keinen unberührt ließ und stehende lang anhaltende Ovationen bekam.

Als nächste Zeitzeugin wurde dann Baronin Regina Sluszny von Moderator Michael Thaidigsmann über ihr Leben als sogenanntes “verstecktes Kind“ befragt. Regina wurde am 25. September 1939 in Antwerpen geboren. Ihre jüdischen Eltern waren in den frühen 1930er Jahren aus Polen nach Belgien gekommen. Während der deutschen Besatzung musste sie als kleines Kind untertauchen. „Wir versteckten uns in der Nähe eines Cafés in Hemiksen, aber unser Versteck wurde verraten, wir mussten schnell fliehen,“ sagte sie. Auf Anraten der Nachbarn Charel und Anna, die ein Lebensmittelgeschäft führten, blieb die damals zweieinhalbjährige Regina bei ihnen zurück, während sich ihre Eltern und Brüder an 15 verschiedenen Orten verstecken mussten. „Ich hatte blonde Haare, was mich weniger verdächtig machte, und so durfte ich draußen spielen. Bis zum Ende des Krieges blieb ich bei Charel und Anna. Ich war dort sehr glücklich,“ sagte Suszny.

Rückkehr in eine völlig andere Welt

Nach der Befreiung Belgiens im Jahr 1944 war die Wiedervereinigung mit ihrer jüdischen Familie sehr schwierig. „Ich war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt, sprach kein Jiddisch, und meine leiblichen Eltern waren sehr orthodoxe Juden. Ich erkannte meine Mutter überhaupt nicht wieder, ich war bei der Trennung ja viel zu klein gewesen,“ erzählte Sluszny. Von einen auf den anderen Tag musste sie sich von einem Leben in einer belgischen nicht-jüdischen Familie zu einem Leben bei ihren orthodox- jüdischen Eltern umstellen, was ihr schwerfiel. Aber da Charel und Anna sie nur schwer loslassen konnten und auch Regina an beiden sehr hing, wurde vereinbart, dass sie die Wochenenden bei ihnen verbringen konnte. „Als meine Eltern Charel und Anna fragten, wie sie sich ihnen gegenüber erkenntlich zeigen könnten, sagten sie, dass sie nichts haben möchten, sondern mich nur weiter sehen wollten, was meine Eltern dann auch ermöglichten”, berichtete Regina Sluszny. Heute bekleidet sie wichtige Positionen in der jüdischen Gemeinschaft Belgiens und hält Vorträge an Schulen und bei offiziellen Veranstaltungen, um vor Intoleranz, Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus zu warnen.

Diskussionsrunde

Unter der Moderation von Michael Thaidigsmann diskutierten Anika Schleinzer, Leiterin der wissenschaftliche Analysestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit des Landes Hessen, Katharina von Schnurbein, EU-Beauftragte für die Bekämpfung von Antisemitismus und Förderung jüdischen Lebens von der Europäischen Kommission, Rechtsanwalt Daniel Neumann, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen und die Autorin Barbara Greenspan Shaiman über die Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus. Neumann hob hervor, dass Antisemitismus kein Problem der Ränder sei, sondern tief in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt. Manchmal stelle er sich mit seiner Familie die Frage, ob er noch eine Zukunft in Deutschland oder Europa habe. Auf die Frage des Moderators, wie die Europäische Kommission Antisemitismus definiere, insbesondere im Kontext der Kritik an Israel, erläuterte die EU-Beamtin von Schnurbein, dass die Kommission Strategien und Programme entwickelt habe, um die Mitgliedstaaten zur Umsetzung einiger Maßnahmen zu bewegen. 20 Mitgliedstaaten seien bereits aktiv geworden. Und die amerikanische Autorin Greenspan  Shaiman betonte die Dringlichkeit, die Diskussion über jüdisches Leben und die traurige Vergangenheit an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen zu thematisieren sowie Bürgerinnen und Bürger weltweit zu sensibilisieren. Die Diskutanten waren sich einig darüber, dass der Kampf gegen Antisemitismus eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft und nicht nur für Sicherheitsbehörden sei. Zum Abschluss setzte sich der 94- jährige Simon Gronowski ans Klavier und spielte virtuos den Louis Armstrong-Song „What a wonderful world“. Und mit einer besseren, optimistischeren und hoffnungsvolleren Hymne, die auf die einfache Schönheit und die kleinen Glücksmomente des Lebens trotz aller Traumata verweist, hätte eine so hochsensible Veranstaltung gar nicht enden können.

(Fotogalerie unterhalb des Video)

Fotogalerie

Fotos: Heide Newson / HU Qianyi

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