Aktuell, Europa, Ratgeber

Belgische EU-Ratspräsidentschaft will „Ordnung“ in die Sozialsysteme bringen

© 2023 HorstWagner.eu

Jubiläumsveranstaltung der Deutschen Sozialversicherung Europavertretung

30 Jahre Binnenmarkt – 30 Jahre Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung

Von Hajo Friedrich

Wer in mehreren europäischen Ländern gearbeitet und in die Sozialkassen eingezahlt hat, der stößt spätestens mit dem Renteneintritt unweigerlich auf dieses Problem: trotz des inzwischen 30-jährigen Bestehens des offiziell schrankenlosen europäischen Binnenmarkts kooperieren die europäischen Sozialversicherungen nur ungenügend. Vor allem, wenn es um den computergestützten Austausch von Daten über Rentenansprüche geht, sei immer noch eine „Fragmentierung der Sozialsysteme“ zu beklagen. Dies sagte Frank Vandenbroucke, der belgische Minister für soziale Angelegenheiten und öffentliche Gesundheit am Dienstag (27. Juni) auf der Jubiläumsveranstaltung der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung in Brüssel.

140 Jahre Sozialversicherung – 30 Jahre Binnenmarkt“. Unter diesem Titel fand die Fachkonferenz der Europavertretung in den Räumlichkeiten der Vertretung des Landes Hessen bei der Europäischen Union statt. „Bismarck on the move: Get digital. Go green“, lauteten die Untertitel für zwei hochkarätig besetze Expertenrunden.

EU-Vorsitz Belgien will Ordnung schaffen

Wir wollen Ordnung in die Koordinierung der Sozialsysteme bringen“, sagte der belgische Vize-Premierminister Vandenbroucke im Blick auf die EU-Ratspräsidentschaft seines Landes in der ersten Hälfte des kommenden Jahres. Die sozialen Rechte müssten weiterhin gestärkt und als „Konzept und Leitlinie“ für die EU-Politik hochgehalten werden. Die bisherigen Fortschritte bei der Koordinierung der Sozialsysteme seien zu stark auf die traditionellen Arbeitsverträge über eine Vollzeitbeschäftigung fokussiert.

Untypische Beschäftigungsverhältnisse drohen zur Regel zu werden

Dagegen verfüge die sprunghaft wachsende Zahl von so genannten Plattformbeschäftigen oftmals über keinen oder nur ungenügenden Zugang zu den sozialen Systemen, kritisierte Vandenbroucke. Die EU definiert Plattformarbeit als eine Arbeitsform, bei der Organisationen oder Einzelpersonen über eine Online-Plattform mit anderen Organisationen oder Einzelpersonen in Kontakt treten, um gegen Bezahlung spezifische Probleme zu lösen oder um spezifische Dienstleistungen zu erbringen.

Scheinselbständige gehören in die Sozialversicherung“

Nach Schätzungen der Europäischen Kommission arbeiten zurzeit mehr als 28 Millionen Menschen in der EU über eine (oder mehrere) dieser digitalen Arbeitsplattformen. Bis zum Jahr 2025 dürfte diese Zahl auf 43 Millionen steigen. Ein großer Teil der Menschen, die auf Plattformen arbeiten, seien Scheinselbständige, die in die Sozialversicherung gehörten, sagte auf dem Podium der Europa-Abteilungsleiter aus dem Bundesarbeitsministerium, Carsten Stender.

EU-Länder können sich nicht einigen

In den vergangenen Jahren konnte der Datenaustausch zwischen den Sozialversicherungsträgern digitalisiert und erleichtert werden. Dafür steht „EESSI“ – die Abkürzung von „European Exchange of Social Security Information“. In Zukunft sollen auch die Versicherten – mit Hilfe der Digitalisierung – ihren Versicherungsstatus elektronisch nachweisen können, heißt es in einem Impulspapier der Deutschen Sozialversicherung, das am Dienstag im Rahmen einer Expertenrunde (Titel: „Europa to go – mobiles Arbeiten im digitalen Wandel“) diskutiert wurde. Dieser Nachweis solle mittels eines europäischen Sozialversicherungsausweises (ESSPASS) erfolgen – und ein Bestandteil der geplanten „digitalen Brieftasche“ (EUid-Brieftasche) werden.

Obwohl die Freizügigkeit eine der am meisten geschätzten Errungenschaften des Binnenmarkts sei, bleibe noch ein langer Weg, bis auch die Sozialversicherungen zuverlässig, schnell und sicher kooperierten, beklagten sowohl der belgische Politiker Vandenbroucke als auch Jost Korte, der Generaldirektor für Beschäftigung, Soziales und Inklusion der Kommission.

Koordinierung – möglichst digital – laute das Schlagwort, eine Harmonisierung der Sozialsysteme werde nicht angestrebt, sagte Korte. Doch um dafür den Weg freizumachen, seien die 27 EU-Mitgliedstaaten gegenwärtig nicht in der Lage. Im Rat herrsche ein Patt, „13 Länder dafür, 13 dagegen, eines in der Mitte“, erläuterte der EU-Spitzenbeamte.

KMU und Handwerk beklagen Schikanen beim Markauftritt im EU-Ausland

Die Europaabgeordnete Gabriele Bischoff erinnerte an die Freizügigkeit als das große Versprechen an die Bürger, die Vorteile von Europa greifbar zu machen. Es gelte für Arbeitnehmer, die sich in einem Sozialversicherungssystem befinden, Schnittstellen zu schaffen, damit sie bei einem Systemwechsel keine Ansprüche verlieren, sagte die SPD-Sozialpolitikerin. Bischoff wie auch der Europa-Abteilungsleiter aus dem Bundesarbeitsministerium, Carsten Stender, verwiesen auf Schwierigkeiten und Ärgernisse von Unternehmen und ihren Beschäftigten, die für eine begrenzte Zeit im Ausland tätig sind. Seit Jahren klagen zum Beispiel deutsche Handwerksbetriebe über teilweise als Schikane und Marktabschottung wahrgenommene Hindernisse bei grenzüberschreitenden Liefer- und Dienstleistungsaufträgen.

Zum einen gelte es für Betriebe und ihre Beschäftigten die Vorschriften nach dem europäischen Entsenderecht zu beachten. Zudem müsse zusätzlich noch das so genannte A1-Verfahren eingehalten werden. „Das verstehe ich nicht“, sagte Stender. Mit der Bescheinigung A1 weisen Beschäftigte bei einer Dienstreise ins europäische Ausland nach, dass sie in ihrem Heimatland sozialversichert sind. Ärgerlich findet der Berliner Ministerialdirektor auch, dass es für die Betriebe kein einheitliches Meldeverfahren bei den deutschen Renten- und Unfallversicherungen gibt.

Keine europäische Zentralstelle der Sozialdaten

Einig waren sich die Experten, dass es keine europäische „Zentralstelle“ geben sollte, die über die vielen sensiblen Daten der Sozialversicherungen verfüge. Doch im Blick auf die angestrebte Digitalisierung der sozialen Sicherheitssysteme könne viel aus der COVID-Pandemie und dem dort verwendeten Zertifikat gelernt werden, meinte Korte. Er verwies darauf, dass die Kommission auf dem Feld der sozialen Sicherheit keine weitreichenden Kompetenzen habe. „Wir koordinieren nur“, sagte der Generaldirektor. Im Kreis der EU-Länder werde zwar viel über das Thema geredet, aber es sei zweifelhaft, ob es die Bereitschaft gebe, die für eine engere Zusammenarbeit notwendigen Investitionen zu tätigen.

Wir wollen ein digitales Wallet zur Verfügung stellen – als Nachweis, versichert zu sein“, sagte Gundula Roßbach, die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung Bund. Auch sie sprach sich gegen eine europäische Datenbank der Sozialversicherungsdaten aus: „Wir wollen nicht den Super-Gau erleben, wenn eine solche Datenbank gehackt wird“. Roßbach betonte die Bedeutung der „Interoperabilität“ und gab unumwunden zu, dass Deutschland manche Entwicklung – etwa im Blick auf die Einführung von digitalen Registern – „verschlafen“ habe.

Ilka Wölfle
Panel 1
Frank Verdenbroucke
Panel 2

Fotos – Copyright: HorstWagner.eu

Nützliche Informationen:

Mehr Informationen über die Jubiläumsfeier „140 Jahre Sozialversicherung – 30 Jahre Binnenmarkt. Bismarck on the move: Get digital. Go green“ können über folgenden link abgerufen werden: https://dsv-europa.de/de/veranstaltungen/30-jahre-dsv.html

1993 haben sich die Spitzenorganisationen der Deutschen Sozialversicherung in Deutschland zusammengetan, um eine gemeinsame Europavertretung in Brüssel aufzubauen. Seitdem vertritt die Deutsche Sozialversicherung Europavertretung (DSV) in Brüssel die Interessen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, der deutschen Rentenversicherung und der gesetzlichen Unfallversicherung. Hier findet sich eine Übersicht der Aufgaben und Tätigkeiten der Brüsseler DSV-Vertretung: https://dsv-europa.de/de/ueber-uns/aufgaben.html

DSV-Ansprechpartnerin

Ilka Wölfle, Direktorin

Tel 0032 2 282 0550

ilka.woelfle@dsv-europa.de

Beratung zur Rente

Die deutsche Rentenversicherung veranstaltet gemeinsam mit der belgischen Rentenversicherung internationale Beratungstage. Dort können persönlich Fragen zum nationalen und internationalen Rentenrecht beantwortet werden. Eine Terminübersicht gibt es hier: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SiteGlobals/Forms/BeratertageSuche/DRV/Beratertagesuche_Formular.html?volume_str=belgien

Leave a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.