Ein Kommentar von Marion Schmitz-Reiners
Wer in Belgien – und in meinem Fall in Flandern – lebt, wird täglich mit Berichten über den aktuellen Nahostkrieg versorgt, die die entsetzliche Situation aus allen Perspektiven beleuchten. Dabei geht es um das Leiden der Israelis ebenso wie um das der Palästinenser in den besetzten und umkämpften Gebieten. Da denke ich beispielsweise an die überregionale flämische Zeitung De Standaard, das politische Magazin KNACK oder den öffentlich-rechtliche Fernseh- und Radiosender VRT.
Gerade war ich für ein paar Tage in Münster. Und ich erkannte den Konflikt beinahe nicht wieder.
Der aktuelle SPIEGEL widmete seine Titelgeschichte jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen, die in Deutschland angefeindet werden. Im Fernsehen lief der Krieg, irgendwie verschämt, unter „ferner liefen“, wobei jedoch die Erfolge der israelischen Armee im Fokus stehen. In der Regionalzeitung meiner Heimatstadt stand am 1. November nichts über den Krieg zu lesen, außer eine kurzen Meldung über den israelischen UN-Botschafter, der sich einen Judenstern angeheftet hatte. Damit hatte es sich.
Gerade hatte – so hörte ich immerhin im Radio – die israelische Armee Dschabalia bombardiert, „eine Vorstadt von Gaza“. Jedoch ist Dschabilia, ein Bezirk von Gaza-Stadt, in Wirklichkeit ein Flüchtlingslager. So stand es in der flämischen Presse. Ein kleiner Unterschied in der Wortwahl mit schweren Folgen für die Wahrnehmung der Kriegshandlungen durch Dritte.
Im Frühstücksraum meines Hotels bat mich eine Dame am Nebentisch um eben jene Regionalzeitung, die ich gerade ausgelesen hatte. Wir kamen ins Gespräch und ich erzählte unter anderem, wie verwundert ich gewesen sei, dass am Vorabend beim Reformationsgottesdienst für „unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland und Israel“ gebetet worden sei, nicht aber für die Hunderttausende von Palästinensern, die ohne Brot und Wasser in einem riesigen Gefängnis eingesperrt seien und dort massenhaft stürben. Ich hatte den – sehr charismatischen – Pfarrer nach dem Gottesdienst darauf angesprochen. Zu meiner Verblüffung reagierte er verblüfft: „Interessant, dass Sie das jetzt sagen!“
„Wie denken Sie darüber?“ fragte ich meine Tischnachbarin.
Die Dame, Religionslehrerin, legte die Zeitung aus der Hand und schien sehr interessiert an einem Gespräch. „Man traut sich ja kaum mehr, den Mund aufzumachen“, sagte sie. „Man wird heute sehr schnell in die antisemitische Ecke gedrängt. Mir ist das alles sehr unheimlich. Ich bin froh, einmal mit jemandem darüber reden zu können.“
Wir waren uns im Laufe des Gesprächs einig auch darin, dass Kritik an der Politik Netanyahus und der Seinen nichts, aber auch nichts mit Antisemitismus zu tun habe. Zumal es „die“ Jüdin oder „den“ Juden nicht gibt. Im März dieses Jahre war ich in Israel und Zeugin massenhafter Demonstrationen gegen die „Justizreform“ Netanyahus. Die Demonstranten können kaum Antisemiten gewesen sein, und auch viele von ihnen sind Kinder der Opfer des Holocaust.
Auf der Heimfahrt überquerte ich bei Venlo die deutsch-holländische Grenze und schaltet auf den niederländischen Radiosender „Radio 1“ um. Dort hörte ich eine eindringliche Reportage über die Verfolgung von Palästinensern auf dem westlichen Jordanufer durch jüdische Siedler.
Was ich mit nach Hause genommen habe, ist die Erkenntnis, welch riesige Kluft zwischen der Wahrnehmung eines Konflikts durch zwei oder drei Länder sein kann, die gemeinsame Grenzen teilen. Von Münster nach Venlo sind es nur 150 Kilometer und nach Antwerpen nur 270 Kilometer. So klein und so gespalten ist unser Europa, und der Weg zueinander scheint durch eine unaustilgbare Geschichte verhindert.
Siehe auch: https://www.annefrank.org/de/themen/antisemitismus/ist-kritik-israel-antisemitisch/
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