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Weltpolitik in der NRW-Vertretung: Debatte mit dem Germanisten Richard David Precht

Von Reinhard Boest

Am Montag dieser Woche war in der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen in Brüssel der aus Solingen stammende Germanist Richard David Precht zu Gast. “Die Welt im Wandel und Europas Antwort” war der anspruchsvolle Titel der Veranstaltung, und man durfte eine pointierte Debatte erwarten. Da es zudem Prechts erster Auftritt in Brüssel war, war der August-Macke-Saal der NRW-Vertretung trotz Regenwetters mehr als voll besetzt.

Die Initiative zu der Debatte war vom früheren (SPD-)Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Düsseldorf Thomas Geisel ausgegangen, der seit 2024 als fraktionsloser Abgeordneter für das BSW (wofür das Kürzel steht, ist derzeit im Fluss) im Europäischen Parlament sitzt. Unter der Leitung von Jürgen Zurheide, bis zu seiner Pensionierung Journalist beim Deutschlandfunk, diskutierten Geisel und Precht auf dem Podium mit den Europaabgeordneten Hildegard Bentele (CDU) und Sergey Lagodinsky (Bündnis 90/Die Grünen), und zwar – wie zu erwarten – durchaus kontrovers. Den größten Raum nahm das Verhältnis der EU zu Russland ein, daneben ging es um die Bedrohung durch die “Tech-Giganten” und schließlich um die Meinungsfreiheit.

Angekündigt war eine Diskussion über grundsätzliche Fragen, die sich für die EU angesichts “früher undenkbarer Herausforderungen” stellten: die Rückkehr des Krieges auf den europäischen Kontinent, Handelsauseinandersetzungen, eine sich ändernde globale politische Architektur und die Klimakrise. Wie verstehe sich die EU vor diesem Hintergrund als Wertegemeinschaft, wie könne sie ihr Gesellschaftsmodell und Wirtschaftssystem bewahren, welche globale Rolle könne und wolle sie spielen?

In seiner Begrüßung zitierte Rainer Steffens, Leiter der NRW-Vertretung, aus einem Gespräch mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse, das Precht etwa vor einem Jahr in seiner ZDF-Sendung geführt hat und in der er sich zum ersten Mal mit dem Thema Europa und EU auseinandergesetzt hat. Manesse setzt sich seit langem für eine Stärkung der EU ein, denn die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts seien längst von transnationaler Tragweite. Ob Klimakrise, Finanzströme, Handelskriege, Verteilung der Rohstoffe oder der Umgang mit Angriffskriegen – eine Nation allein sei da überfordert.

Thomas Geisel konzentrierte sich in seiner Einführung stark auf die Beziehungen zu Russland und lag dabei auf der bekannten Linie des BSW. Seit sich die USA zunehmend von Europa wegorientierten, müsse die EU ihr Verhältnis “zum größten Land auf dem Kontinent” überdenken. Permanente Aufrüstung könne nicht die Lösung sein. Die EU werde nicht nur von Putin bedroht. Außerdem sei es ein Fehler, sich in der Energiepolitik auf Dauer von Russland (auch nach Putin) abzuwenden, zumal wenn man sich stattdessen in eine neue Abhängigkeit von amerikanischen Fracking-Gas begebe.

Precht stellt sich in seinem Statement als “Fachmann für Inkompetenz-Kompensation” vor. Im Saal säßen sicher viele Personen mit hoher Kompetenz – aber nur in ihrem Bereich, in einem “Meer von Inkompetenz” drumherum. Nach Prechts Verständnis von Philosophie könne diese dabei helfen, den Blick zu weiten. Er ging dann auf die “drei globalen Revolutionen” ein, die Europa derzeit gleichzeitig bedrohten: das Ende der “westlichen Hegemonie”, das “zweite Maschinenzeitalter” und schließlich die Klimakrise. Das seien auch die drei zentralen Sorgen für die EU, und er hoffe, sich am Ende des Abends ein wenig weniger Sorgen machen zu müssen.

Die Weltordnung ändere sich rasend schnell, die BRICS-Staaten seien schon lange keine Schwellenländer mehr, und auch Multilateralismus und eine regelbasierte Ordnung (etwa in der Handelspolitik) gerate immer mehr unter Druck. Die EU halte trotzdem weiter an der transatlantischen Tradition fest, obwohl die USA zumal unter Präsident Trump sich immer weiter entfernten. Die Aufrüstung “werde uns ruinieren”, da das dafür aufgewendete Geld an anderer Stelle fehle, für Investitionen ebenso wie für Sozialausgaben. Ein weitererer wirtschaftlicher Niedergang werde aber nur den politischen Rändern weitere Zuwächse  bringen. Es sei daher Zeit, das Verhältnis zu Russland zu überdenken. Wenn man der Ukraine nur soviele Waffen liefere, dass sie nicht verliere, verlängere man den Krieg immer weiter, mit zahllosen Opfern auf beiden Seiten. Er plädiere für eine KSZE 2.0, in der die Länder auf dem Kontinent – unter Wahrung ihrer gegenseitigen Sicherheitsinteressen – eine Ordnung definierten, in der sie miteinander auskämen.

Mit dem “zweiten Maschinenalter” beschreibt Precht die Digitalisierung und den Vormarsch der künstlichen Intelligenz. Sei es bei der ersten industriellen Revolution seit dem 19. Jahrhundert um die Ersetzung der Handarbeit gegangen, sei jetzt die “Kopfarbeit” dran. Mit der Macht der Technologiefirmen aus dem Silicon Valley entwickle sich eine Art “Tech-Feudalismus”, der die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft bedrohe. Zu diesem System passten Autokratien besser als die liberale Demokratie, und Unternehmer wie Peter Thiel sagten das auch ganz offen. Verbunden mit einem weiteren wirtschaftlichen Niedergang verstärke sich so der “Ruf nach dem starken Mann”. In Ungarn gebe es formal noch eine Demokratie, aber “liberal” sei sie wohl kaum noch. Die Klimakrise als “dritte Revolution” kam am Ende kaum noch vor, ebensowenig in der anschließenden Debatte.

In dieser ging es – sehr kontrovers – vor allem um das Verhältnis zu Russland. Der Europaabgeordnete Lagodinsky, der selbst in Russland geboren wurde, widersprach Precht und Geisel vehement. Ihre Sichtweise sei sehr westeuropäisch bestimmt; er empfehle, lieber einmal in Warschau oder den baltischen Ländern nachzufragen. Es habe in der Vergangenheit genug Versuche gegeben, mit Putin zu reden und ihn einzubinden, auch schon lange vor dem Überfall auf die Ukraine. Er erinnerte an Georgien 2008 und die Annektion der Krim 2014. Gegen die russische Bedrohung komme die EU um eine Aufrüstung nicht herum, die Mittel müsse aber “richtig eingesetzt” werden. “KSZE 2.0” laufe auf die Definition von Einflusszonen hinaus, und was das für die Ukraine bedeute, könne man sich denken. Die Abgeordnete Bentele meinte, dass es der Ukraine vor allem um einen Beitritt zur EU gehe – was Geisel angesichts der Auswirkungen etwa auf die EU-Landwirtschaftspolitik ohnehin für ausgeschlossen hält.

Auch zum “zweiten Maschinenzeitalter” verlief die Debatte eher kontrovers. Bentele und Lagodinsky unterstrichen das grundsätzliche Recht der EU, die “Tech-Giganten” zu regulieren, auch wenn man sich über das Ausmaß streiten könne. Die Unternehmen hätten durch ihr Verhalten vielfach belegt, dass man ihnen nicht trauen könne. Auf keinen Fall dürfe man sich von außen politisch – etwa durch den US-Präsidenten – unter Druck setzen oder gar erpressen lassen. Europa müsse eigene Kapazitäten aufbauen, allerdings müsse man dafür andere Handlungsfelder finden. Dafür müsse massiv investiert werden, wobei Precht für einen Staatsfonds wie in Norwegen plädierte. Wichtig sei, dass das Geld in Europa bleibe, dann könnten die Erträge auch etwa zur Finanzierung der Renten eingesetzt werden. Geisel plädierte dagegen für eine Zerschlagung der Monopole – schließlich habe das Heimatland des Kapitalismus das früher schon einmal bei Standard Oil praktiziert. Peter Thiel bedrohe unsere Freiheit mehr als Wladimir Putin.

Zum Ende der fast zweistündigen Debatte, die aber in keinem Moment langweilig war, kam die Sprache noch kurz auf die “europäischen Werte”. Deren Bedeutung wurde zwar anerkannt, aber dennoch gab es nur beschränkten Widerstand gegen die Position, dass man es damit nicht übertreiben dürfe, etwa wenn es gegen bestimmte Entwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten gehe. Precht und Geisel sehen den Meinungskorridor eingeschränkt, wenn man es mit der Werteordnung übertreibe. Auch Bentele stellte die Frage, ob die EU mit der Integration nicht zu weit gegangen sei und ob nicht die Konzentration auf den Binnenmarkt ausreiche. Sie verwies auf das breite Spektrum an Positionen, die man in den Mitgliedstaaten, aber auch im Europäischen Parlament vorfinde.

Precht beklagte dagegen, dass der Meinungskorridor immer mehr eingeengt werde (davon handelt auch sein neuestes Buch) – eine Einschätzung, der Jürgen Zurheide die Frage entgegensetzte, ob Precht seine Meinung nicht mehr sagen dürfe. Ein Problem sehe er eher darin, dass die “sozialen Medien” eben nicht wie andere Medien behandelt würden. Dort gebe es weder das Recht auf Gegendarstallung noch das Instrument der “Programmbeschwerde”, das  zunehmend gegen die Rundfunkanstalten angestrengt werde. Einigkeit bestand dann wieder darüber, dass der “Stammtisch”, der früher über die Gaststube nicht herausreichte, heute weltweit verbreitet werde und dass dies ein echtes Problem darstelle.

Zu einer Diskussion mit dem Publikum – das durchaus gespalten war, wie man aus den Reaktionen während der Beiträge hören konnte – kam es aus Zeitgründen nicht mehr. Zurheide schloss mit der Bemerkung, dass man zwar nicht zu gemeinsamen Positionen gefunden habe, aber doch in Ruhe weiter bei einem Bier diskutieren könne.

Beim anschließenden Empfang war jedenfalls der Andrang am Büffet und an der Getränkebar genauso hoch wie am reich bestückten Büchertisch, wo Gelegenheit bestand, sich von Richard David Precht eines seiner vielen Bücher signieren zu lassen.

 

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