Eine Besprechung des Buches „Stoute schoenen“ von Bart Van Loo
Von Michael Stabenow
848 Seiten – das flößt vor der Lektüre schon viel Respekt ein. Wer sich jedoch mit dem belgischen Historiker Bart Van Loo auf eine fast 150 Jahre umfassende Zeitreise durch das von Dijon bis in Teile der heutigen Niederlande reichende Reich der Burgunderherzöge einlässt, wird es nicht bereuen. Am Ende einer kurzweiligen, aber auf solider historiographischer Grundlage fußenden Lektüre steht das Gefühl, Geschichte hautnah erlebt zu haben.
Mit seinem 2020 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Burgund. Das verschwundene Reich“ erschienenen Buch hatte Van Loo Maßstäbe gesetzt. Er spannte den Bogen von den mittelalterlichen Ursprüngen der Burgunder im heutigen Skandinavien bis zum Tode des über seine Großmutter Marie von Burgund dem Geschlecht entstammenden Kaiser Karl V. im Jahr 1558. Das nun im niederländischen Original unter dem Titel „Stoute schoenen“ (Kühne Schuhe) veröffentlichte neue Werk Van Loos ist weit mehr als ein Aufguss jenes in vielen Rezensionen, auch in Belgieninfo (https://belgieninfo.net/buchtipp-de-boergondiers), hochgelobten damaligen Buches.
„In den Fußspuren von Akteuren und Figuren“
Handelte es sich damals um eine klassische historische Darstellung von Aufstieg und Niedergang des Großherzogtums im 14. und 15. Jahrhundert, so hat Van Loo jetzt einen anderen Ansatz gewählt. Er tritt, wie er es ausdrückt, „in die Fußspuren von Figuren und Orten, die etwas darüber erzählen, wo wir herkommen“.
Ergebnis ist eine anschauliche Zeitreise. Dabei fügt Van Loo Akteure und Schauplätze zu einem gelungenen Mosaik zusammen. Legte er in seinem ersten Burgunderbuch den Schwerpunkt auf das Geschehen in Flandern, so reicht der Blick nun deutlich weiter. Er führt uns nicht nur nach Gent, Brügge, Mecheln oder Brüssel, sondern auch in andere, heute ebenfalls belgische Städte wie Oudenaarde, Kortrijk, Namur und Lüttich.
In der Satteltasche von Karl dem Kühnen
Geradezu eindringlich lenkt der Autor unsere Aufmerksamkeit auf historische Perlen in den heutigen Niederlanden wie Bergen op Zoom, Breda, ´s-Hertogenbosch, Utrecht oder Nimwegen (Nijmegen). Ausführlich befasst er sich zudem mit Schauplätzen in den burgundischen Stammlanden wie Dijon, Autun oder Beaune. Auf seiner Reise führt uns der Historiker „in der Satteltasche“ von Karl dem Kühnen bis nach Nancy.
Dort wurde 1477 der umtriebige Sohn Philipps des Guten, des von 1419 bis 1467 herrschenden Großherzogs, nach einer bis in die Schweiz reichenden waghalsigen Expedition in einer Schlacht erstochen. Es war ein Schlussstrich unter die Geschichte des großen Herzogtums, dessen südlicher Teil (mit der Hauptstadt Dijon) an Frankreich und dessen nördlicher Teil – plus die Freigrafschaft Burgund (Franche Comté) – an das Haus Habsburg überging
Herrschaftsgebiet von Dijon bis tief in die heutigen Niederlande
Begonnen hatte dieses Kapitel großburgundischer Geschichte 1369 in Gent mit der Hochzeit von Philipp dem Kühnen, dem sechs Jahre zuvor zum Großherzog von Burgund erhobenen Sohn des französischen Königs Johann dem Guten, mit Margarete van Male aus der Familie der Grafen von Flandern. Fortan sollte sich der burgundische Herrschaftsbereich von Dijon bis Gent und weit darüber hinaus erstrecken.
Geradezu kühnen Schrittes führt uns Van Loo zu den damaligen Stätten. Augenzwinkernd führt er an, während der fast vier Jahre dauernden Arbeiten an dem Buch Tag für Tag Sportschuhe mit der eingravierten Aufschrift „Philipp“ (einerseits) und „der Kühne“ (andererseits) getragen zu haben.
Charakteristisch ist, wie Van Loo bei seiner Schilderung des damaligen Sitzes der Grafen von Flandern unweit von Brügge die Leserschaft schlagartig vom Spätmittelalter in die Gegenwart katapultiert – mit dem Wunsch nach einem dort ansässigen Museum mit „Klasserestaurant“. Spannend erzählt der Autor, wie er mehr oder weniger zufällig die Überreste des „Prinsenhofes“ in Gent entdeckt habe, wo 1369 ein festliches Bankett stattgefunden haben soll.
Das burgundische Streben nach Pracht und Prunk
Dieses „groß angekündigte Bankett“ steht symbolisch für das unter Philipp dem Guten, dem Enkel von Philipp dem Kühnen, perfektionierte Streben nach Pracht und Prunk. Es war, wie Van Loo ausführt, auch der Versuch, Burgunds Stellung zwischen den mächtigen Nachbarn Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu festigen.
Im dritten, vielleicht eindrucksvollsten Teil des Buches beschreibt Van Loo den Trauerzug, der im Jahr 1404 die sterblichen Überreste von Philipp dem Kühnen von Halle bei Brüssel bis zum Geburtsort Dijon begleitet. Es ist eine einfühlsame Beschreibung der entlang der Strecke gelegenen Städte, Kirchen und Burgen, ihrer Kunstwerke und Akteure – kurz: Geschichte zum Anfassen.
So erspüren wir, auch dank vieler Fotos und Illustrationen, die mittelalterliche Pracht von Kortrijk und Lille, aber auch der von Touristen heute wenig beachteten Städte Arras, Cambrai oder Douai. Typisch für das häufige Bemühen zur Auflockerung des Textes ist der Hinweis Van Loos, dass man von der Umgebung von Douai aus, hätte es 1404 dort schon die heutigen, 60 Meter hohen Kohlehalden gegeben, bestens den Trauerzug hätte beobachten können.
Der „Mosesbrunnen“ des „Michelangelo der Niederlande“
Nicht fehlen darf im Buch die Anregung, der auf dem Weg nach Dijon gelegenen, aber nicht zum burgundischen Herrschaftsbereich zählenden Stadt Troyes mit ihren gut 3000 Fachwerkhäusern einen Besuch abzustatten. Ausführlich widmet sich Van Loo der Beschreibung des spätmittelalterlichen Dijon. Wie in seinem ersten Burgunderbuch betrachtet er ausführlich den „Mosesbrunnen“, ein heute inmitten eines schmucklosen Klinikareals gelegenes prächtiges Kunstwerk des aus Haarlem stammenden Bildhauers Klaas Sluter (auch als Claus Sluter bekannt). Ihn preist Van Loo als „Michelangelo der Niederlande“.
Ereifern kann er sich darüber, dass nur wenige heutige Burgunder von der Existenz des Kunstwerks wissen. Er wertet dies als symptomatisch für eine mangelnde Bereitschaft in der französischen Wissenschaft, das Ende des 15. Jahrhunderts voll ins Königreich einverleibte Kern-Burgund als wichtigen Bestandteil französischer Geschichte zu betrachten. Nach wie vor scheint die Entscheidung von Philipp dem Guten nachzuwirken, sich 1420, ein Jahr nach der Ermordung seines Vaters Johann Ohnefurcht, auf die Seite Englands zu schlagen.
Rogier van der Weyden, Jan van Eyck, Hieronymus Bosch
Die kritische Auseinandersetzung mit französischen Historikern steht für Van Loo aber nicht im Vordergrund. Begeistert führt er uns nach Beaune zu dem dort 1450 vollendeten „Jüngstes Gericht“-Flügelaltar des flämischen Malers Rogier van der Weyden. Im knapp 50 Kilometer westlich davon gelegenen Autun macht Van Loo eine durch ihn typisch beschriebene Entdeckung: „Da, wo ich soeben meinem Ford Fiesta entstiegen bin, hing drei Jahrhunderte lang Die Madonna des Kanzlers Rolin (1435–1436) von Jan van Eyck“ – ein nun im Pariser Louvre zu bewunderndes Gemälde eines der ganz großen flämischen primitiven Maler. Es zeigt nicht zuletzt Nicolas Rolin, als Kanzler von Philipp dem Guten damals einer der mächtigsten Männer.
Einige Jahrzehnte später wirkte im nördlichen Teil des Herrschaftsgebiets der Maler Hieronymus Bosch. Ihn würdigt Van Loo ebenfalls als einen der herausragenden Künstler der damaligen Zeit. Ausführlich schildert er, welche Rolle in den heutigen Niederlanden gelegene Städte von Haarlem bis Nimwegen für Burgund spielten. In Wijk bij Duurstede, heute ein Vorort von Utrecht, wandelt Van Loo eifrig auf den Spuren von David von Burgund. Dieser war ein unehelicher Sohn von Philipp dem Guten und von 1456 bis 1496 Bischof von Utrecht – und als solcher ausgesprochen mächtig.
Warum ein Abstecher nach Nevers sich lohnt
Dass Van Loo am Ende seines Buches uns noch in das etwas abseits gelegene Nevers führt, hat auch einen persönlichen Grund. Es ist die Heimat seiner Ehefrau. Dennoch belegt Van Loo anschaulich und anhand vieler Bauwerke, warum auch ein Abstecher in diese alte Stadt sich lohnt. Großzügig gesteht der Autor der Leserschaft zu, dass sie zuweilen etwas die Übersicht verlieren könne, wenn es um die vielen Akteure mit den Namen Philipp, Karl oder Margarete gehe und er dabei ein wenig zeitlich hin und her springe.
Aber das Fazit nach der Lektüre des in mehrfacher Hinsicht schwergewichtigen Buches ist eindeutig: Van Loo führt uns damit in beeindruckender Weise zu vielen berühmten, aber auch bisher eher verborgenen Schauplätzen burgundischer und europäischer Geschichte. Nicht nur den Leserinnen und Lesern leistet der Historiker damit gute Dienste. Auch die Fremdenverkehrsämter von Haarlem, Utrecht, Kortrijk und Arras bis nach Nevers und Dijon können ihm für das, was er auf 848 Seiten zusammengetragen hat, nur dankbar sein.
Bart Van Loo, Stoute schoenen. In de voetsporen van de Bourgondiërs, De Bezige Bij, Amsterdam 2024, 848 Seiten; ISBN 978 94 031 4791 8; 45 EUR
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