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“Unser Deutschlandmärchen” – Dinçer Güçyeter liest in der NRW-Landesvertretung

Von Reinhard Boest

Wer kennt Nettetal, diese kleine Stadt im tiefen Westen Deutschlands, unmittelbar an der Grenze zu den Niederlanden? Und wer kennt Dinçer Güçyeter, Sohn dieser Stadt und mehrfach ausgezeichneter Autor, Theatermann und Verleger? Diese Frage stellte auch Rainer Steffens, Leiter der EU-Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen, zu Beginn einer Lesung am 2. Oktober. Seither sind es in Brüssel jedenfalls einige Leute mehr. An diesem Abend konnte sich Güçyeter einem zahlreich erschienenen Publikum in einer von der Literaturkritikerin Insa Wilke moderierten Lesung vorstellen.

“Unser Deutschlandmärchen” ist Güçyeters erster Roman; seit 2012 hat er in dem von ihm selbst gegründeten ETIF-Verlag bereits mehrere Lyrikbände veröffentlicht. Auch sein Roman – er selbst nennt es eine “ruhige Erzählung” – wechselt zwischen Prosa und Lyrik. Es geht um seine eigene Familiengeschichte, um das Verhältnis zu seinen Eltern und um deren Ankommen (oder Nichtankommen?) in Deutschland. Sein Vater gehörte zur ersten Generation angeworbener türkischer “Gastarbeiter” und kam 1965 nach Deutschland. Die Mutter, Fatma, folgte wenige Jahre später. In den von Güçyeter vorgetragenen Auszügen geht es sehr viel um sie und seine Beziehung zu ihr. Sie nimmt ihr Leben und das ihrer Familie in die eigene Hand, arbeitet hart und viel in der Fabrik und als Erntehelferin, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie hat aber auch hohe Erwartungen, denen ihr Sohn in ihren Augen nicht gerecht wird – jedenfalls am Anfang. Eindrucksvoll schildert Güçyeter das an ihrer Reaktion (eisiges Schweigen), als er ihr eröffnet, dass er die Lehre als Werkzeugmechaniker abbrechen will. Erst als er mit seinem literarischen Schaffen Erfolg hat, zeigt sie, wie stolz sie auf ihn ist. Aber auch erst als dieser Erfolg – insbesondere der Preis der Leipziger Buchmesse 2023 – ihren Sohn auch in Nettetal richtig bekannt macht, wollen sich die Leute mit ihr in der Fußgängerzone fotografieren lassen.

Dinçer Güçyeter geht es mit seinem Roman auch um eine Hommage an diejenigen, die man nicht sieht – die aber mit ihrer Arbeit dafür sorgen, das Land am Laufen zu halten. Waren es doch gerade die “Gastarbeiter” der ersten Generation, die man brauchte, damit das Wirtschaftswunder weitergehen konnte. Parallelen zu heute (etwa mit dem allseits beklagten Fachkräftemangel) drängen sich auf, worauf Insa Wilke in dem Gespräch hinwies. In der Tat: was wäre, wenn alle Menschen mit “Migrationshintergrund” für ein paar Tage nicht zur Arbeit kämen? Und das gilt beileibe nicht nur für Deutschland.

Und was ist “Unser Deutschlandmärchen”? Sicher nicht das gleiche für Dinçer Güçyeters Eltern und ihn selbst. Insa Wilke erinnerte daran: Märchen können Wünsche oder Träume sein, aber auch Lügen. Die Eigenheit von Märchen ist ja meistens, dass sie gut ausgehen. Wie fällt Güçyeters Bilanz aus? Wenn man hört und liest, wie er mit der (deutschen) Sprache umgeht und was er damit vermittelt, ist für ihn in Deutschland ein Traum in Erfüllung gegangen? Für seine Mutter ist diese Frage weit weniger klar zu beantworten: sie ist vor einiger Zeit in ihre vermeintliche Heimat, in die Türkei, zurückgekehrt – und musste feststellen, dass sie dort auch keine Wurzeln mehr hat. Dinçer Güçyeter stellt die Frage, wie weit ein Baum seine Äste ausstrecken kann, der keine Wurzeln hat. Jede “Remigration” ist ein zuweilen dramatisches persönliches Schicksal.

Am Ende einer zuweilen heiteren, zuweilen traurigen, immer nachdenklichen und am Ende optimistischen Lesung stand lang anhaltender Beifall. Güçyeter war beeindruckt von dem großen Zuspruch: bei Lyriklesungen sei er oft schon mit fünf Zuhörern “ausverkauft”, wie er augenzwinkernd bemerkte. Und so machte er stolz ein Selfie mit dem Publikum – schließlich sei auch bei einer türkischen Hochzeit das eigentlich einzig Wichtige das Familienfoto.

Der Abend klang mit angeregten Gesprächen bei einem Büffet mit türkischen Speisen aus. Güçyeter hatte Gelegenheit, einige Exemplare seines Buches signiert an die Frau oder den Mann zu bringen. Ein ungewöhnlicher, auf jeden Fall lesenswerter Roman.

 

Unser Deutschlandmärchen. Roman. mikrotext, Berlin 2022, ISBN 978-3-948631-16-1.

Preis der Leipziger Buchmesse 2023

Aus der Begründung der Jury (Vorsitzende: Insa Wilke):

Traditionell wie innovativ queer erzählt, reißt einen diese Einwanderergeschichte mit ihrer Emotionalität und großen politischen Bedeutung von Anfang an mit. Der Roman blickt auf deutsche und europäische Verhältnisse, lässt die Worte zum Himmel fliegen, spart aber gleichzeitig die Demütigungen am Boden nicht aus. Dinçer Güçyeter fängt Geschichten mit einem Netz ein, das feiner gewebt ist als ein Schmetterlingskescher, kann schmerzliche Momente in komische verwandeln und hat uns mit „Unser Deutschlandmärchen“ einen mehrstimmigen Roman geschenkt, dessen poetischer Chor noch weiterklingen wird.

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