Von Reinhard Boest
Das Projekt der Metrolinie 3 in Brüssel ist weiter in der Schwebe. Immer neue, mehr oder weniger überraschende Hindernisse bremsen den Baufortschritt, und auch hinter der Finanzierung stehen große Fragezeichen. Auch fast vier Monate nach der Wahl ist nicht absehbar, wann es eine neue Regionalregierung in Brüssel geben wird. Auch wie sie sich zusammensetzen wird, kann noch niemand mit Sicherheit voraussagen; sicher ist nur, dass sie anders aussehen wird als die bisherige, nur noch geschäftsführend amtierende Koalition.
Es es gibt inzwischen klare Anzeichen dafür, dass einige Verkehrsprojekte auf den Prüfstand kommen werden, allen voran das Mobilitätskonzept “Good Move” mit seinen weitreichenden Verkehrsberuhigungen in den Wohnvierteln, aber auch die Niedrigemissionszone (LEZ), die zu saubererer Luft in der Stadt beitragen soll. Hier gibt es im Brüsseler Parlament anscheinend eine breite Mehrheit für eine Verschiebung um – zunächst – zwei Jahre. Wird sich eine neue Koalition auch auf das Projekt Metro 3 auswirken?
Die Brüsseler Nahverkehrsgesellschaft STIB scheint auf den Fortgang zu vertrauen. Am vergangenen autofreien Sonntag lud sie nämlich das interessierte Publikum zu einer Besichtigung der künftigen Haltestelle “Toots Thielemans” ein, zwischen den jetzigen Stationen “Gare du Midi” und “Anneessens” unter der Avenue de Stalingrad und direkt am Palais du Midi gelegen. Schon gleich nach der Öffnung um 10 Uhr war der Andrang groß. Auch viele Familien hatten sich eingefunden, denn es gab nicht nur eine Baustelle zu besichtigen, sondern auch Mammutknochen, die bei archäologischen Grabungen in der Baugrube gefunden wurden.
Über metallene Behelfstreppen ging es am künftigen Eingang an der Kreuzung mit dem Boulevard du Midi zunächst etwa drei Meter abwärts auf die Ebene der künftigen Schalterhalle. Hier fallen die großen Öffnungen in der Decke auf, die künftig das Tageslicht einfallen lassen sollen. Zwischen dicken Metallrohren, die die Seitenwände stützen, geht es jetzt noch ein ganzes Stück weiter hinunter auf die Ebene des künftigen Bahnsteigs. Hier zeugen die großen Mengen gelagerter Armiereisen davon, dass die Betonarbeiten noch nicht überall abgeschlossen sind.
Immerhin ist der Tunnel Richtung Gare du Midi unter dem Boulevard Jamar inzwischen auch fertig, und im April konnte dort die Mauer zum bestehenden Tunnel der Prémétro durchschlagen werden. Bis hier Gleise liegen und die ersten Metrozüge fahren können, wird es aber noch dauern. Am nördlichen Ende der Station zeigt nämlich eine Mauer, dass es erst einmal nicht weitergeht: hier liegen die 120 Meter des insgesamt nur 650 Meter langen neuen Tunnels, die unter dem Palais du Midi hindurchführen müssen – ein Mammutprojekt, an dem das ganze Vorhaben mehrfach zu scheitern drohte (siehe https://belgieninfo.net/die-unendliche-geschichte-der-bruesseler-metrolinie-3/).
Der Widerstand der bisherigen Nutzer des Palastes – sofern sie vier Jahre nach Beginn der Arbeiten überhaupt noch da sind – manifestierte sich auch am Tag der Besichtigung: parallel zur Veranstaltung der STIB lud eine Initiative der Anwohner zu einer Protestversammlung. Man kann die Verbitterung verstehen: die Bauarbeiten laufen jetzt schon seit mehr als 1500 Tagen, und weitere 3400 kommen noch, wie ein Plakat am Eingang eines Geschäfts im Palais du Midi aufzählt. Auch wenn die Baugrube in der Avenue de Stalingrad inzwischen geschlossen ist, wird die Wiederherrichtung des Straßenraums noch auf sich warten lassen. Und die Entkernung eines Teils des Palastes, um darunter den Tunnel zu bauen, hat noch nicht einmal angefangen. Erinnert sich noch jemand an die Ankündigung zu Beginn des Projekts? 2024 sollte die Metro von Albert bis Gare du Nord fahren, 2031 bis Bordet im Brüsseler Nordosten. Inzwischen wäre man wohl zufrieden, 2031 den Nordbahnhof zu erreichen. Auch dort herrscht seit zwei Jahren Stillstand, weil man die – unerwarteten? – Probleme mit dem Grundwasserspiegel nicht in den Griff bekommt.
Aber bei der STIB bleibt man anscheinend zuversichtlich: mit den am 23. September in Kraft getretenen Anpassungen im Straßenbahnnetz räumt man schon einmal die Liniennummer 3 frei, die bisher für eine Tramverbindung vergeben war. Nach zwei Jahren Bauzeit hat an diesem Tag die neue Tramlinie 10 den Betrieb aufgenommen. Mit acht neuen Haltestellen verbindet sie das Militärkrankenhaus in Neder-Over-Hembeek im Brüsseler Norden mit der Station Churchill in Uccle im Süden. Sie ersetzt auf einem großen Teil ihrer Linienführung die bisherige Tramlinie 3, insbesondere auf dem Abschnitt durch die Innenstadt, wo künftig die Metrolinie 3 verkehren soll.
Bemerkenswert sind die Vorzüge, mit denen die STIB für die neue “10” wirbt: sie ermögliche eine umsteigefreie, bequeme Verbindung in die City und weiter bis nach Uccle. Bemerkenswert deshalb, weil sich in der Vergangenheit gerade die Gegner der Metro auf dieses Argument gestützt und sich stattdessen für ein verbessertes Tram- und Prémétronetz eingesetzt haben. Kommt die Metro, müssen Nutzer der Tram (aus dem Norden nicht nur die Linie 10) in Gare du Nord umsteigen – und wenn sie nach Uccle wollen, in der künftigen Endstation Albert noch einmal…
Aber jetzt bleibt erst einmal abzuwarten, welche Entscheidungen die künftigen Regierungen auf der föderalen und der regionalen Ebene über den Fortgang und die Finanzierung des Projekts treffen werden. Eines ist sicher: die Geschichte geht weiter – und Toots Thielemans bleibt noch für Jahre Namensgeber für einen Rohbau.
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